Literaturwissenschaft – Ein rotes Tuch?

Symbolbild: Für viele ist die Literaturwissenschaft schnell ein rotes Tuch, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität

Welche Rolle spielt es, dass das Tuch rot ist oder weiß, ein Ball rot oder grün? Ist das nicht vollkommen egal? Wer muss das wissen? Es kommt darauf an, dass der Ball die Luft behält, das Tuch keine Löcher hat und die Geschichte weitergeht. Die Literaturwissenschaft wird nicht benötigt, ist unnütz, so der Vorwurf. Aber stimmt das?

Nicht immer sind Farben irritierend, wohl für die wenigsten Menschen sind sie etwas Besonderes. Aufmerksam wird man bei Ferdinand von Schirach, der etwa in seinem Roman „Tabu“ und in der Geschichte „Grün“ das Phänomen der Synästhesie sichtbar, erfahrbar macht. Es handelt sich dabei um die Verknüpfung zweier Sinneseindrücke: Farben können gerochen, Töne gesehen werden. Am Ende der Geschichte „Grün“ wird der Protagonist, der alle anderen Menschen als Zahlen wahrnimmt – denen er Attribute wie gut oder schlecht zuordnet – gefragt, welche Zahl er selbst sei. Er antwortet nicht mit einer Zahl.

Doch nicht nur beim Lesen von Werken von Schirachs, der selbst Synästhetiker ist, werden Menschen auf Farben aufmerksam: Bei der Mode wird häufig darüber gesprochen, bei bildenden Künsten und Fotografie sowieso. Irritierend kann die Erfahrung während des Deutschunterrichts sein, wenn bei der Interpretation von Texten auf die Farben, die darin vorkommen, verwiesen wird. Ist es nicht gleich, ob der Ball rot oder grün ist?

Bei der Literatur scheint für manche nicht relevant, was es woanders ist, ja die Literatur und die Literaturwissenschaft selbst hätten keinen Nutzen und damit keine Existenzberechtigung. Es ist ein typisches Argument der Betriebswirtschaftslehre und auch andere – insbesondere naturwissenschaftliche – Fächer stempeln die Disziplin ab. Niemand braucht Bücher mit literarischen Texten, höchstens einen Kriminalroman vor dem Einschlafen, aber „Schullektüren“ liest man nur, weil man es muss.

Literaturwissenschaft = Universalwissenschaft?

Der Grabenkampf zwischen Natur- und Geisteswissenschaft soll hier nicht weiter vertieft, neue Ideen für den Deutschunterricht und die -didaktik nicht diskutiert werden. Es geht vielmehr darum, welchen gesellschaftlichen Mehrwert es durch die Literaturwissenschaft gibt. Wieso brauchen wir sie? Schließlich kostet das alles ja Geld. Die Frage nach den Farben entstammt der Fachrichtung des Maschinenbaus.

Nun ist klar, das Farbenbeispiel ist sehr plakativ und impliziert, dass man sich nur mit unwichtigen Themen beschäftige, die an Esoterik erinnern lassen. Das Beispiel trägt jedoch seine Lösung bereits in sich. Literatur ist, neben der Kunst, die „komplexeste Form menschlicher Kommunikation“ (Stefan Neuhaus), das heißt unter anderem, dass Bedeutungen nicht auf den ersten Blick offensichtlich sind.

In der Darstellung der Farben oder ihrer Erwähnung liegt Bedeutung verborgen. Es kann innerhalb einer Erzählung einen Unterschied machen, ob ein Ball rot oder grün ist. Durch die Darstellung wird etwas codiert: Grün kann für Hoffnung stehen, rot für Gefahr, es kommt jedoch auf den Kontext an. Es ist dasselbe Prinzip wie bei einem Fußballspiel: Die Fans verbinden mit gelb-schwarz etwas anderes als mit rot-weiß.

Auch etwas nicht zu erwähnen, kann Bedeutung haben: In wie vielen Geschichten findet man die Erwähnung von der Hautfarbe weißer Menschen, in wie vielen die von schwarzen? Die Literaturwissenschaft beschäftigt sich nicht nur mit Farben, sondern betrachtet ihre Gegenstände unter etlichen Gesichtspunkten: Was steht wo, wie wird was ausgedrückt, was wird weggelassen?

Dabei greift sie interdisziplinär auf viele Zugänge zurück, die von der Soziologie über Psychologie, Interkulturalität und Biografieforschung bis hin zu den wirtschaftlichen Voraussetzungen und Entstehungsbedingungen von Literatur reichen. Bereits in dem „Buch von der Deutschen Poeterey“ aus dem 17. Jahrhundert greift Martin Opitz den Gedanken auf, dass „alle anderen kuenste vnd wissenschafften […] sich“ in der „Poeterey“ vereinigen. Anders gesagt: Literaturwissenschaft kann als eine Art Universalwissenschaft fungieren.

Die vierte Gewalt, Gesellschaft und Kultur

Der Literaturwissenschaft können so Erkenntnisse zu eigen werden, die anderen Disziplinen verschlossen bleiben, und sie kann sie anwenden, um sich selbst generalistisch herauszubilden. Viele Absolventinnen und Absolventen des Studiums der Literaturwissenschaft (die sich nicht für das Unterrichten entschieden haben) arbeiten im Bereich der Medien, die oftmals als vierte Gewalt im demokratischen Staat bezeichnet wird. Hier muss man stets alles im Blick haben.

Dabei kann man die Kultur – so mannigfaltig dieser Begriff auch verwendet wird – nicht ausblenden. Literatur ist Teil derselben und ein Weg, sie zu erschließen und zu verstehen. Wer sich etwa die Rolle der Frau in der deutschsprachigen Literatur ansieht (ob als Autorin oder als Figur in Texten), bekommt auch ein Verständnis von ihrer gesellschaftlichen Stellung. Und auch die behandelten (oder ausgeblendeten) Themen können ein Indikator für die Gesellschaft sein: Betrachte man hier nur die Biedermeierzeit mit ihrer betont apolitischen Haltung oder das zeitgenössische Theater, das immer wieder auf die kapitalistische Wirtschaftsweise mit ihren Folgen hinweist.

Nicht nur für Medienschaffende spielt es eine Rolle, ob ein Politiker die AfD braun oder blau nennt, ob über etwas als Gretchenfrage berichtet wird oder ob sich einer Erzählung zur bildlichen Darstellung eines Themas angenommen wird. Die Kultur und die Sprache, Erzählungen oder – wie es fachsprachlich auch in anderen Disziplinen heißt – Narrative ermöglichen, beeinflussen und formen unsere Wahrnehmung. Gigi Fremdenführer, eine Figur aus dem Roman „Momo“ des Autors Michael Ende, die gerne Geschichten erzählt, entgegnet einem Zweifler: „Die ganze Welt ist eine große Geschichte und wir spielen darin mit.“ Es gibt keine vollkommene Objektivität, auch wenn man mit Zahlen und Computern arbeitet: Bei jeder Erhebung, bei jedem Forschungsprojekt muss zunächst eine Frage formuliert werden.

Wichtig ist die Bewusstwerdung, das Bewusstsein über die Sprache und ihre Funktionen ebenso wie über Kultur und Literatur. Unnütz, wie es der Literaturwissenschaft vorgeworfen wird, ist sie nicht: In China gibt es andere Erzählungen, die das Denken prägen, als in Deutschland und bereits die Übersetzung von deutschen Ausdrücken in das Englische gerät häufig genug zum Problem. Relevant für ein wirtschaftliches Handeln wird diese Tatsache dadurch, dass in den Unternehmen keine universellen Maschinen, sondern Menschen aus unterschiedlichsten Kulturkreisen zusammenarbeiten. Empathie, das Hineinversetzen in andere, ist hier ein ausschlaggebender Punkt.

Literaturwissenschaft fordert und fördert diese Fähigkeit. Sie ist nützlich. Daneben jedoch geht sie auch über den reinen Nutzenaspekt hinaus. Das Leben und die Wirklichkeit, die Welt und die Welterfahrung bestehen nicht nur aus Arbeit und Wirtschaft, wichtig ist auch der Genuss. Und diesen beim Lesen und Erfahren von literarischen Werken durch Wissen und Verstehen zu vermehren vermag nur die Literaturwissenschaft.

Bildquelle: pixabay.com

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