Ich bin autistisch. Wenn man mich so sieht, dann ist das für viele Leute vielleicht erstmal überraschend. Würde ich euch auffordern, euch eine autistische Person vorzustellen, würdet ihr vermutlich nicht an jemanden wie mich denken.
Ich bin erwachsen, weiblich, verbringe gerne Zeit mit Menschen die mir wichtig sind, bin kein menschlicher Supercomputer und es tut mir leid euch enttäuschen zu müssen aber ich bin nicht besessen von Zügen. Ich bin nicht wie Sheldon Cooper aus ‘The Big Bang Theory’ oder Shaun Murphy aus ‘The Good Doctor’. Ich entspreche nicht dem Bild von Autismus, das die meisten Menschen haben, dem Bild, das es in Filmen oder Serien gibt. Einem Bild das nicht der Wahrheit entspricht, denn Autismus ist noch so viel mehr als das: der Schauspieler und mehrfache Oscar-Gewinner Anthony Hopkins, die Klimaaktivistin Greta Thunberg, Newt Scamander aus ‘Fantastische Tierwesen’, Mr Darcy aus ‘Stolz und Vorurteil’ und noch so viele mehr. Schätzungsweise 1-2% aller Menschen sind auf dem Autismus-Spektrum. Aber was heißt das überhaupt?
Autismus ist eine Neurodivergenz, das heißt, dass sich das Gehirn einer autistischen Person von dem einer nicht-autistischen Person unterscheidet. Das verändert, wie autistische Menschen ihre Umwelt wahrnehmen und verarbeiten und äußert sich in allen möglichen Bereichen, zum Beispiel in der sozialen Interaktion, der verbalen oder nonverbalen Kommunikation, dem Bedürfnis nach Beständigkeit, der Intensität von Interessen, der Empfindlichkeit der Sinne und noch so viele mehr.
Man spricht von einem Spektrum, weil Autismus so verschieden sein kann. Das Spektrum ist nicht wie eine Linie von ‘ein bisschen autistisch’ zu ‘sehr autistisch’, denn ‘autistisch’ ist ein absolutes Adjektiv und solche Abstufungen funktionieren nicht. Stattdessen ist es eher wie eine Große Fläche oder ein Raum oder ein beliebig-dimensionales Gebilde das alle autistischen Menschen beinhaltet, egal wie verschieden sich Autismus bei ihnen äußert.
Für mich ist die Welt eher eine Ansammlung von Details als ein Gesamtbild. Mein Gehirn filtert Eindrücke anders, weniger, manchmal sogar fast garnicht, das heißt alles ist oft ein bisschen intensiver, lauter, heller,… einfach mehr. Das führt hin und wieder zu einem sogenannten Sensory Overload, also einer Reizüberflutung: alle Eindrücke prasseln auf mich ein und ich komme mit dem Verarbeiten nicht hinterher, ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren, mein Kopf ist von der Überflutung wie leergefegt, ich würde am liebsten nach Hause gehen und sofort einschlafen weil mir alles zu viel ist. Wenn ich mich zu lange in einer lauten Umgebung aufhalte werde ich sehr erschöpft, wenn der Fernseher zu laut ist muss ich weggehen, wenn Essen die falsche Konsistenz hat oder unangenehm riecht kann ich es nicht essen, ich vermeide Orte an denen viel los ist wie zum Beispiel volle Supermärkte oder große Partys.
Meine Wahrnehmungsverarbeitung kann das Leben in unserer schnellen und lauten und chaotischen Welt sehr anstrengend machen.
Um möglichst wenig Stress im Alltag zu haben, mache ich alles gerne immer gleich. Beständigkeit und Vorhersehbarkeit sind mir wichtig, denn sie geben mir Sicherheit. Kurzfristige Planänderungen bedeuten für mich häufig große Belastung, unbekannte Situationen machen mir manchmal sogar Angst. Veränderungen lösen bei mir meistens starkes Unwohlsein aus, vor allem wenn ich sie nicht selbst so ausgesucht oder geplant habe oder sie plötzlich oder unerwartet passieren. Ich muss ständig so viele Eindrücke verarbeiten und soziale Regeln beachten, dass ich für Spontanität und Flexibilität oft einfach nicht mehr genügend Energie übrig habe. In einer Welt, die so chaotisch und unvorhersehbar ist, versuche ich deshalb alles was ich kontrollieren kann möglichst geordnet und vorhersehbar zu halten.
Mir fallen oft Dinge auf, die die meisten anderen Menschen nicht wahrnehmen, gleichzeitig übersehe ich aber oft das, was für andere offensichtlich ist. Das kann es schwierig machen, mit anderen Menschen zu interagieren: Ihre Gesichtsausdrücke oder Körpersprache sagen mir eher nichts, Subtext in Gesprächen nehme ich häufig kaum wahr. Es gibt so viele unausgesprochene Regeln darüber wie man sich anderen Menschen gegenüber verhalten soll und während nicht-autistische Menschen diese unterbewusst ganz automatisch lernen und anwenden können muss mein autistisches Gehirn sehr viel Aufwand betreiben um keine Fehler zu machen. Es kann sich anfühlen als würden wir ein Spiel spielen, aber nur nicht-autistische Menschen kennen die Spielregeln und ich muss diese durch Beobachten irgendwie erraten.
In sozialen Situationen wirke ich eher zurückhaltend weil das für mich sehr viel sicherer ist. Ich kann nicht gut einschätzen, welches Verhalten oder welcher Gesprächsbeitrag gerade angebracht wäre, also mache und sage ich meistens lieber nichts. Ich brauche Zeit um die Regeln zu verstehen, denn ich will keine Fehler machen und damit unangenehm auffallen.
Dass ich oft nicht besonders viel rede bedeutet aber nicht, dass ich nichts zu teilen hätte. Ganz im Gegenteil: mein Gehirn ist immer am arbeiten, ich kann es nie abschalten, manchmal kann ich nicht schlafen weil es immer weiter denkt. Wenn ich mich für etwas interessiere dann setze ich mich intensiv damit auseinander. Dieser ‘Hyperfokus’ und solche ‘Spezialinteressen’ sind für alle autistischen Menschen unterschiedlich, sowohl inhaltlich als auch in ihrer Dauer, doch eins haben sie alle gemeinsam: ihre große Intensität.
Wenn ich Musik finde die ich mag, dann höre ich sie in den folgenden Wochen in Endlosschleife. Ich habe alle 279 Folgen von ‘The Big Bang Theory’ unzählige Male gesehen und brauche nur wenige Minuten einer beliebigen Folge zu sehen um sie zu erkennen. Ich weiß fast alles was es über das Autismus-Spektrum zu wissen gibt und kann mich stundenlang damit beschäftigen ohne zu merken wie die Zeit vergeht.
Autismus ist keine Krankheit, er kann nicht ‘geheilt’ werden. Eine autistische Person war, ist und wird immer autistisch sein. Autismus ist eine Art die Welt wahrzunehmen und zu verstehen. Autistisch-sein bedeutet gleichzeitig mehr und weniger wahrnehmen, missverstehen und missverstanden werden, auffallen und unsichtbar sein, über- und unter-reagieren, kurz gesagt: anders sein. Aber ‘anders’ bedeutet nicht unbedingt ‘schlecht’. Ich sehe die Welt wie aus einer anderen Perspektive, und die würde ich auf keinen Fall ändern wollen.
Das Beitragsbild stellt die Autistic Pride Flag dar und ist aus folgender Website entnommen: https://www.autisticempire.com/autistic-pride/
Kommentar hinterlassen