Weggegangen, Platz vergangen

Wenn die Prüfungen näher rücken und der Stresslevel steigt, klemmen sich die Studierenden hinter ihre Laptops, Macbooks und Tablets, und selbst die Faulsten widmen sich voller Elan ihren Olat-Kursen, Nextcloud-Ordnern und Samba-Gruppen.

Es werden Folien ausgedruckt, unleserliche Mitschriften dechiffriert und Lerngruppen gegründet, es wird sich seiten- und bücherweise Fachliteratur in den pochenden Schädel gehämmert, bis zum Erbrechen auswendig gelernt und anstelle gemütlicher Kneipenabende gibt es massenhaft Nachtschichten am Schreibtisch. Wer das zuhause nicht machen kann oder will, geht dafür gern in die Bib. Hier verspricht man sich die nötige Ruhe, Ablenkungslosigkeit und Konzentration, um das eigene Gehirn zur Höchstleistung zu bringen. Ein Ort zum Lernen für alle. Soweit die Theorie.

In der Praxis hat man neben kleineren Nervigkeiten wie unzuverlässiger Internetverbindung, dringend benötigter aber leider verliehener Fachliteratur oder laut flüsternder Störenfriede vor allem mit dem allseits bekannten Platzproblem zu kämpfen. Einmal, das ist sicherlich unbestritten, bietet das Gebäude grundsätzlich einfach zu wenig Platz für all die Lernenden, gerade zu den Stoßzeiten, wenn sich gefühlt die ganze Uni gleichzeitig auf ihre Prüfungen vorbereitet. Das ist ärgerlich – aber wohl zunächst nicht zu vermeiden. Doch der Frust darüber, mitsamt seinen Utensilien ewig durch die Gänge schleichen zu müssen wird nicht unwesentlich verstärkt durch die verbreitete Reserviermentalität, die der aus Freibadbesuchen bekannten Praktik des Platzfreihaltens mittels Handtuchs nicht unähnlich ist. Über Stunden hinweg werden ganze Tische mit einem wohlplatzierten Collegeblock oder einer besitzanzeigenden Sweatshirtjacke zum scheinbaren Privateigentum einer einzelnen Person, die damit anderen den Lernraum nimmt. Die Suche nach einem freien Arbeitsplatz wird ab dem späten Vormittag zum Ding der Unmöglichkeit, weil quasi auf jedem unbesetzten Stuhl ein einsamer Rucksack oder ein aufgeschlagener Hefter liegen.

Während es vollkommen legitim und das gute Recht aller ist, für eine Zigarette vor die Tür zu gehen oder das WC aufzusuchen, bringt das scheinbar spurlose Verschwinden einzelner ihre lernwilligen Mitstudierenden um einen ruhigen Lernort – und das ist nicht fair. Woher kommt die Überzeugung einiger, die Plätze die der Allgemeinheit verfügbar sein sollten einfach blockieren zu können? Haben sie so wenig Mitgefühl für ihre lernenden Leidensgenoss*innen? Sind sie sich der entnervenden Konsequenzen ihrer Freihalte-Aktionen schlicht nicht bewusst? Wo bleiben Solidarität und studentische Rücksichtnahme? Was wurde aus der guten alten Regel des „Weggegangen, Platz vergangen”? Man kann sich nur wundern, warum einigen das Verständnis für die platzmangelbedingten Notlagen verzweifelter Kommiliton*innen völlig abzugehen scheint.

Statt in der stressigen Zeit zu einer Horde hochkonzentrierter Einzelkämpfer*innen zu mutieren sollten wir uns lieber darauf besinnen, dass wir in demselben (zu kleinen) Boot sitzen – und als Zeichen der Kollegialität Abstand davon nehmen, überall unsere Schals, Notizblöcke und halbleeren Wasserflaschen zu hinterlassen, nur um nach der Mittagspause am gleichen Tisch sitzen zu können.

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