
Autor: Carolin Steinhage
Triggerwarnung: Im Text geht es um einen unschuldig verurteilten Mann.
Als eine Pflegekraft am 28. Oktober 2008 um 18:30 Uhr die Wohnung Lieselotte Kortüms in Rottach-Egern am Tegernsee betritt, um nach der älteren Dame zu sehen, ist etwas anders als sonst. Der Schlüssel steckt noch in der Wohnungstür und das Geräusch fließenden Wassers tönt leise aus dem Badezimmer. Ein Blick hinein offenbart ihr eine schreckliche Szene: Frau Kortüm liegt voll bekleidet kopfüber in der Badewanne, offenbar leblos, der Wasserhahn ist aufgedreht.
Nach einer ausführlichen Sichtung der Wohnung finden allerdings weder Polizei noch Kriminalpolizei wesentliche Anhaltspunkte für ein Verbrechen. Routinemäßig werden die Personen befragt, welche vor ihrem Tod als letzte in Kontakt mit ihr standen. Manfred Genditzki, Hausmeister der Wohnanlage, in der sich Frau Kortüms Apartment befindet, ist eine von ihnen. Er kümmert sich schon seit geraumer Zeit um die 87-jährige Frau, geht für sie einkaufen, wäscht ihre Wäsche und steht auch jenseits dieser Erledigungen in einem sehr guten Verhältnis zu ihr. Seine Familie und Frau Kortüm beschenken sich gegenseitig, von seinem Umfeld wird er außerdem stets als sehr hilfsbereit und freundlich beschrieben.
Am Todestag Frau Kortüms holt er sie aus dem Krankenhaus ab, in welchem sie aufgrund ihrer schweren Durchfallerkrankung einige Tage verbracht hat. Die beiden treffen gegen 14:00 Uhr in ihrer Wohnung ein, woraufhin er ihr laut eigener Aussage noch Kaffee kocht und gemeinsam mit ihr die Abrechnung für ihre Einkäufe vornimmt. Kurz darauf verlässt er das Wohngebäude, um seine eigene Mutter im Krankenhaus zu besuchen. Im Auto ruft er um 15:09 Uhr den Pflegedienst an und informiert diesen über Frau Kortüms Rückkehr, bevor er anschließend für sie einkaufen geht. Er erwirbt unter anderem Schokolade, Damenbinden und Schmuck für die Rentnerin. Der Kassenbon weist aus, dass er um 15:30 Uhr im Laden bezahlt hat. Als er später gegen 20:50 Uhr durch einen Anruf der Polizei dazu aufgefordert wird, schnellstmöglich hoch zum Apartment von Frau Kortüm zu kommen, ist er sofort zur Stelle. In den Augen der Beamten verhält er sich jedoch merkwürdig. Er rede zu viel und liefere ohne große Umschweife direkt sein Alibi, nämlich den Einkauf mit nachweisbarem Zeitstempel auf dem Kassenzettel, heißt es später.
Noch in der Nacht vom 28. auf den 29. Oktober wird Frau Kortüms Leiche zur Obduktion nach München gebracht. Der zuständige Rechtsmediziner Wolfgang K. kann hierbei keine Todesursache durch Fremdeinwirkung feststellen, Lieselotte Kortüm soll nach einem Sturz in die Badewanne ertrunken sein. Es handelt sich also um einen Unfall. An ihrem Hinterkopf befinden sich Blutergüsse, ihnen wird von den Medizinern jedoch nicht weiter Bedeutung beigemessen, da sie blutdrucksenkende Präparate und gerinnungshemmende Mittel einnahm. Derartige Medikamente können die Entstehung solcher Hämatome begünstigen. Aus diesem Grund wird ihr Körper bereits am Folgetag eingeäschert, eine weitere Untersuchung ist folglich unmöglich. In diesem ersten Gutachten wird der Todeszeitpunkt auf den Zeitraum zwischen 15:15 Uhr und 18:30 Uhr geschätzt.

Eigentlich hätte der Fall an dieser Stelle bereits zu den Akten gelegt werden können, jedoch wird der zuständige Rechtsmediziner drei Wochen später noch einmal dazu aufgefordert, sich das Badezimmer genauer anzusehen und verändert sein Gutachten daraufhin schlagartig. Plötzlich heißt es, Frau Kortüm sei wohl doch nicht durch einen Unfall umgekommen, sondern durch einen Schlag auf den Hinterkopf mit einem stumpfen Gegenstand in die Badewanne gefallen und auf diese Weise ertrunken. Zu diesem Schluss kam er, als er sich mehrfach in die Badewanne legte und versuchte, den Sturz zu simulieren.
Manfred Genditzki gerät hierbei sofort in das Visier der Ermittler, seine anfänglichen Unsicherheiten während der Befragung werden ihm zum Verhängnis. 3 Monate nach Kortüms Tod wird er schließlich vom Zeugen zum Beschuldigten und am 29. Februar 2009 vor seiner Wohnung wegen Mordverdachts verhaftet. Bei einer Durchsuchung seiner Familienwohnung stoßen die Ermittler auf zwei Pelzmäntel. Genditzki beteuert, diese als Geschenk von Lieselotte Kortüm erhalten zu haben. Auch der Schmuck, den er zuvor für die Rentnerin gekauft hat, wird dort entdeckt – ein Fund, der den Verdacht des Diebstahls gegen ihn aufkommen lässt. Als der Prozess vor dem Landgericht München II am 25. November 2009 startet, wird Manfred Genditzki Mord aus Habgier vorgeworfen. Der zuständige Staatsanwalt beharrt auf folgendes Motiv: Er soll Frau Kortüm mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf geschlagen, sie anschließend in das Badezimmer geschliffen und daraufhin in der Wanne ertränkt haben, um an ihr Geld zu kommen. Dieses habe er verwendet, um bei einem Freund seine Schulden in Höhe von rund 8000 Euro zu begleichen. Auf Genditzkis Bankkonto ist tatsächlich eine solche Aktivität am Todestag Frau Kortüms zu verzeichnen, jedoch fehlt kein Cent ihres Vermögens. Er kann völlig plausibel beweisen, dass seine Zahlung aus nachvollziehbaren, legalen Quellen stammt.
Als sich im Gerichtssaal zeigt, dass dieses Motiv keinen überzeugenden Hintergrund hat, präsentiert die Staatsanwaltschaft kurzerhand eine völlig neue Erklärung. Zwischen Genditzki und Kortüm soll es in der Wohnung kurz nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus zu einem Streit gekommen sein, da er zu seiner Familie wollte, sie sich aber noch länger Gesellschaft wünschte. In diesem Zusammenhang habe er sie geschlagen und anschließend in der Badewanne ertränkt, um die Körperverletzung zu vertuschen. Anstatt die Beweisaufnahme erneut aufzunehmen, entspricht die Schwurgerichtskammer am Landgericht München II dem Antrag der Staatsanwaltschaft und verurteilt den Hausmeister am 12. Mai 2010 wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe.
Noch im selben Jahr wird Revision gegen das Urteil eingelegt – mit Erfolg. Der Bundesgerichtshof erkennt einen Verfahrensfehler im plötzlichen Wechsel des Tatmotivs. Der neue Prozess beginnt am 8. November 2011, endet 2012 jedoch erneut mit einer Verurteilung Genditzkis zu lebenslanger Freiheitsstrafe wegen Mordes. Es gilt laut Kammer als erwiesen, dass er sie mit einem stumpfen Gegenstand geschlagen und anschließend in der Badewanne ertränkt hat. Dafür sprächen die Blutergüsse an ihrem Hinterkopf.
Daraufhin übernimmt die Rechtsanwältin Regina Rick Genditzkis Verteidigung und reicht nach langer Vorbereitung mithilfe eines Spendenauftrags im Jahr 2019 einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens ein, welcher schließlich mit einem Freispruch am 7. Juli 2023 endet. Wesentliche Punkte, die den Freispruch Genditzkis begünstigen, sind unter anderem das Fehlen einer „Waschhaut“ (Bezeichnung für die faltige, aufgequollene Struktur der Haut nach längerem Kontakt mit Wasser) am Körper der Rentnerin, ein thermodynamisches Gutachten sowie eine computergestützte biomechanische Simulationsmethode, beide durchgeführt von den Professoren Syn Schmitt und Niels Hansen. Mithilfe dieser neuartigen Methoden kann bewiesen werden, dass der Todeszeitpunkt Lieselotte Kortüms in dem Zeitraum lag, für den Manfred Genditzki ein handfestes Alibi vorweisen kann. Des Weiteren werden den Medikamenten, die Frau Kortüm einnahm, eine nicht unerhebliche Bedeutung für ihren möglichen Sturz in die Badewanne beigemessen. Sie sollen unter anderem Schwindel und regelmäßige, kleine Ohnmachtsanfälle ausgelöst haben. Auf Fotos des Badezimmers sind zudem Müllsäcke zu sehen, die vermutlich ihre verschmutzte Kleidung aus dem Krankenhaus enthalten. Beim Versuch, die Wäsche in der Badewanne zu reinigen, könnte sie einen Ohnmachtsanfall erlitten und dabei in die Wanne gestürzt sein.
Obwohl er stets seine Unschuld beteuerte und zahlreiche Beweise gegen einen Mord an der älteren Frau vorlegen konnte, verbrachte der heute 64-jährige Familienvater mehr als 13 Jahre unschuldig in Haft, eine Zeit, die er sich nie wieder zurückholen kann. Seine Anwältin Regina Rick spricht von erheblichen Verfahrensfehlern und kritisiert insbesondere die Beweisführung im Prozess. Genditzki hat bereits 368.700 Euro Entschädigung erhalten, jüngsten Berichterstattungen zufolge verklagt er nun den Freistaat Bayern und fordert mindestens 750.000 Euro.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im Prozess um den vermeintlichen „Badewannenmord“ an Frau Kortüm einige Fehler begangen wurden. 2023 sagte Genditzki nach seinem Freispruch: „Einen Grund zum Jubeln habe ich nicht, 14 Jahre sind weg“. Der Grundsatz In dubio pro reo – Im Zweifel für den Angeklagten – hat in diesem Fall leider keine Anwendung gefunden.
Quellen:
- https://www.ndr.de/fernsehen/programm/epg/Tod-in-der-Badewanne-Das-Urteil,sendung1450582.html
- https://www.ndr.de/fernsehen/programm/epg/Tod-in-der-Badewanne-Mord-oder-Unfall,sendung1331682.html
- https://www.mdr.de/nachrichten/podcast/spurdertaeter/audio-genditzki-mordurteil-wiederaufnahme100.html
- https://www.itt.uni-stuttgart.de/institut/aktuelles/news/Badewannen-Mord-Freispruch-nach-Gutachten-von-Simulationsforschern/
- https://www.tagesschau.de/inland/regional/bayern/br-badewannen-mord-justizopfer-manfred-genditzki-verklagt-bayern-102.html#:~:text=Im%20September%202023%20hatte%20Genditzki,Entsch%C3%A4digung%20von%20368.700%20Euro%20erhalten
Kommentar hinterlassen