Meine persönlichen Erfahrungen und Ansichten –
Erstens: Ich war verdammt verpeilt
In der Grundschule lief noch alles super. Ich bin auf eine winzige Schule im Dorf gegangen, wir waren zu neunt in einer Klasse, hatten keinen Stundenplan und lange „Freiarbeitsphasen“. Es war ein Kindheits- und ein ADHS-Paradies.
Als ich auf eine weiterführende Schule in Landau gekommen bin, sah alles plötzlich ganz anders aus. Ich war konstant überfordert. Nicht unbedingt mit dem Schulstoff, aber mit ziemlich allem drum herum. Plötzlich gab es drei riesige Schulgebäude, in denen ich mich jeden Tag verlaufen habe. Wir waren rund 25 Schüler:innen in der Klasse und hatten jede Stunde eine:n andere:n Lehrer:in, was mein kleines neunjähriges ADHS-Hirn mehr als nur verwirrt hat. Außerdem einen festen Stundenplan, den ich mir nie merken konnte, und ein Hausaufgabenheft, von dem ich, glaube ich, erst kurz vorm Abitur wirklich verstanden habe, wie ich es sinnvoll nutzen kann.
Damals habe ich mir noch große Mühe gegeben, eine vorbildliche Schülerin zu sein – das habe ich im Laufe der Jahre irgendwann aufgegeben – und habe dennoch ständig meine Hausaufgaben oder Schulsachen vergessen. Ich erinnere mich daran, wie eine damalige Lehrerin mich vor der ganzen Klasse als faul bezeichnete. Mein sechstklass-Ich, dass sich immer so sehr bemüht hat, ist nach Hause gegangen und hat sich die Augen ausgeheult.
Meine gesamte Schulzeit war unterwandert von einem unterschwelligen Gefühl der Panik – In welchen Raum muss ich? Hat die Stunde schon angefangen? Was, wir hatten Hausaufgaben? Was, wir schreiben heute eine Arbeit? Alles verpeilt.
Und wie sollte ich erklären, dass ich nicht so sein wollte, dass ich es besser machen wollte, aber irgendwie einfach nicht konnte, wenn ich es nicht mal selbst verstanden habe? In meiner Panik habe ich mir immer wieder Ausreden einfallen lassen, obwohl ich nichts mehr hasste als Lügen und Unwahrheit, und irgendwann auch mich selbst, die Lügnerin. Und ich habe mich geschämt.
Zweitens: Langeweile war die Hölle
ADHS zu haben, bedeutet, ein Hirn zu haben, in dem konstanter Dopaminmangel herrscht, und für das alle Tätigkeiten, die keine Dopamin-Ausschüttung hervorrufen, die reinste Qual sind. Wie ein:e Verhungernde:r, die:der nur an Essen denken kann und stattdessen ein Haus streichen soll. Lernpsychologisch gesehen rufen jene Aufgaben eine Dopamin-Ausschüttung hervor, die für die Lernenden von persönlichem Interesse sind und deren Anforderungsprofil ihren Fähigkeiten entspricht. Ich bin schon fast ridiculously schnell begeisterungsfähig, sodass eigentlich alles für mich von persönlichem Interesse ist. Das mit dem Anforderungsprofil war allerdings ein ständiger struggle. Mein Dopamin-hungriges, lernbegeistertes Hirn rast durch alles, was neu und spannend ist, schnell hindurch. Das entspricht aber leider nicht der durchschnittlichen Interessenslage in einer Mittelstufen-Klasse, sodass mir immer alles viel zu langsam ging.
ADHS-Hirne, sowieso konstant unterstimuliert, langweilen sich schnell und intensiv. Die Langeweile, die meine Schultage dominierte, fühlte sich an wie tausend Ameisen, die über meine Hirnhaut krabbeln, sodass ich einfach nur noch mein Gehirn durch meine Nasenlöcher herausziehen und mit einem Baseballschläger zu Matsch schlagen wollte. „Zu Tode langweilen“ erschien mir plötzlich wie ein sinnvolles Konzept, ein erstrebenswertes, als würde mich die Langweile, die mich so quält, irgendwann von sich selbst erlösen, aber sie tat es nicht und quälte mich weiter, Stunde für Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Mit der Zeit habe ich verschiedene mehr oder weniger… okay, nur weniger sinnvolle Wege gefunden, diese Langeweile zu bekämpfen: Ewige Diskussionen mit Lehrer:innen, erst unter der Bank und dann demonstrativ auf dem Tisch lesen, Klassenclown spielen damit ich vor die Tür fliege und da mein eigenes Ding machen kann statt im Klassensaal die die Zeit abzusitzen…
Die Rückmeldungen waren immer die gleichen: Sei doch mal geduldiger. Du musst halt auf die anderen warten. Das musst du aushalten. Sei nicht so eingebildet.
Das Konzept, dass die Minderheit – lernbegeisterte ADHSler*innen, das dürfte wohl ein sehr kleiner Prozentsatz sein – sich der Mehrheit anpassen muss und alles andere egoistisch und zu individualistisch sei, ist ein gefährliches Narrativ und in diesem Falle einfach nur ableistisch. Wir alle wurden aber so sozialisiert, dass dies unserer Vorstellung von Fairness und Demokratie entspricht, und so habe ich geglaubt, dass ich geduldig sein muss und unauffällig und still, und dass alles andere falsch ist. Und ich habe mich geschämt.
Drittens: Ich war weird. Like… really, really weird.
Kurz vor dem Abitur haben wir für unsere Abizeitung aus Spaß Schüler:innen-Rankings erstellt. Mit ein paar Freundinnen habe ich mir im Geschichtsunterricht angeschaut, wer in welche Kategorie gewählt wurde.
Ich: „Macht nie Hausaufgaben“. Makes Sense. „Kaffeejunkie“. Passt. “Zwischen Genie und Wahnsinn” – Versteh ich nicht. Dass die misconception, ich sei genial, besteht, war mir bewusst, aber woher meine Mitschüler:innen wussten, dass ich wahnsinnig bin, ist mir ein Rätsel. Ich dachte, das hätte ich halbwegs erfolgreich versteckt. Als ich eine Freundin danach fragte, sagte sie nur: „Hast du schon mal deine Notizen gesehen?“
Und ich schaute herunter auf meine Notizen zur Geschichtsstunde. Oben stand noch ordentlich: „Der kalte Krieg“. Was folgte waren aber wild hingekritzelten Berechnungen, ob es günstiger ist, ein Haus mit elektrischem Licht zu beleuchten oder mit Aquarien voller Anglerfische zu füllen, diverse Zitate von Albert Camus – in Spiegelschrift von rechts nach links geschrieben –, 14 Versuche, eine perfekte Nacktschnecke zu malen, und ein siebenfach umkringeltes „I’M SO BORED I WANT TO DIE“.
Mit großem Unwohlsein betrachtete ich die vergangenen Schuljahre, all die kleinen Dinge, in denen sich meine Andersartigkeit gezeigt hat, von denen ich immer so sehr gehofft habe, dass keiner sie mitbekommt und wenn doch, ganz schnell wieder vergisst:
Es ist nerdig genug, dass ich mit Begeisterung mathematische Beweise führe und Gedichte analysiere, aber dass ich dabei vor Aufregung mit den Händen in der Luft herumwedelte und jedes Mal fast von meinem Stuhl aufsprang, fanden andere erst recht komisch.
Ich dachte an all die Male, die ich im Unterricht vor mich hingesummt und es nicht mal gemerkt habe und wenn doch, irgendwie einfach nicht damit aufhören konnte. Heute weiß ich, dass das eine Form von „Stimming“, self stimulating behaviour, ist, ein typischer Weg für neurodivergente Menschen, mit Unter- oder Überstimulierung umzugehen und eigentlich nicht unterdrückt werde sollte.
Ich dachte an all die Male, die ich zu schnell oder zu viel oder zu laut oder zu leise geredet habe.
Ich dachte an all die Male, als ich mit Freundinnen zusammenstand und ausprobiert habe, in wieviel unterschiedlichen Positionen ich meine Füße hinstellen kann, statt mich am Gespräch zu beteiligen.
Ich dachte an jede einzelne Sportstunde, in der ich unkoordiniert durch die Gegend gestolpert bin, wahrscheinlich in einem weirden zusammengewürfelten Outfit, weil ich meine Sportsachen vergessen hatte und Kleider aus der Lost-and-Found-Kiste wühlen musste.
Und ich habe mich geschämt.
Alles in allem hat sich ein Gefühl des anders-seins, des falsch-seins, gleichzeitig zu-viel- und nicht-genug-seins durch meine Schulzeit gezogen, ein Gefühl der Scham vor allen anderen und allen voran vor mir selbst.
Aber ich werde mich nicht mehr schämen. Ich bin ein neurodivergenter Mensch in einer überwiegend neurotypischen Welt. Und das ist ok. Ich muss mich nicht anpassen. Das heißt nicht, dass ich nicht an Wegen arbeiten muss, gut mit anderen zusammen zu leben. Das müssen wir alle. Aber ich muss nicht mich selbst verstecken, nur weil „man das nicht macht“, was ich den lieben langen Tag so mache. Ich werde mich nicht mehr schämen.
Kommentar hinterlassen