Anfang des Jahres 2013 beging Aaron Swartz im Alter von 26 Jahren in New York Selbstmord. So tragisch der Verlust eines einzelnen Menschenlebens auch immer ist, es stellt sich die Frage, warum ausgerechnet dieser Fall zum Objekt dieses Artikels wird. Aaron Swartz befand sich zum Zeitpunkt seines Todes in einen bizarren Rechtsstreit verwickelt, der im schlimmsten Falle zu einer stolzen Haftstrafe von 35 Jahren geführt hätte. Aber langsam, es lohnt sich diese Geschichte von vorne zu beginnen.
Aaron wurde 1986 als Sohn eines selbstständigen Programmierers geboren. Sehr früh fiel seinem Umfeld auf, dass das Kind außergewöhnlich schnell lernte und sich mit Dingen beschäftigte, die gleichaltrige Kinder überforderten. Mit 3 Jahren hatte sich Aaron bereits selbst das Lesen beigebracht und mit 8 Jahren begann er sich mit Computern auseinanderzusetzen. Im Alter von 12 Jahren hatte Swartz eine Website programmiert, die Nutzer*innen das Erstellen von Artikeln zu den verschiedensten Themen ermöglichte. Es war das Prinzip der Wikipedia – bevor es die Wikipedia überhaupt gab. In der zehnten Klasse verließ Swartz, der stets mit seinen Lehrer*innen und deren Methoden auf Kriegsfuß gestanden hatte, die Highschool.
In der Folge fasste er zunehmend Fuß in der Programmierer*innen-Szene Amerikas. Er arbeitete mit 14 Jahren an der ersten Version der RSS-Anwendung mit [1]. Über diese Arbeit kam er in Kontakt mit Lawrence Lessig. Lessig war und ist einer führenden Rechtswissenschaftler im Bereich der Online-Rechtsforschung. Er entwickelte das Prinzip der Creative-Commons-Lizenzen [2], die eine Neuregelung der Nutzungsrechte digitaler Werke erwirkte. Während Lessig den rechtlichen Aspekt dieser Lizenzen erarbeitete, kümmerte sich Aaron um die Umsetzung dieser Ideen in den nötigen Code. Völlig selbstverständlich konnte sich der 14-Jährige auf Konferenzen vor ein Fachpublikum stellen und über die technischen Spezifikationen referieren. Swartz war zu diesem Zeitpunkt sicherlich kein einfacher Mensch für Gleichaltrige. Sein Bruder schilderte ihn als einen „Alpha-Nerd“ der sich stark über seine Fähigkeiten definierte und die Fähigkeiten anderer Menschen, sofern diese nicht an seine heran reichten, deutlich abwertete. Swartz selbst gab später relativ offen zu, dass er nicht das Gefühl hatte, eine Kindheit durchlebt zu haben.
Nach diesen Arbeiten, die ihn in der Wahrnehmung der fachkundigen Öffentlichkeit zu einem der (wenn nicht dem) größten Zukunftsversprechen der digitalen Branche machten, begann er für kurze Zeit ein Studium. Abermals kam Swartz nicht mit dem Stil der Wissensvermittlung zurecht und verließ die Stanford University (die Kaderschmiede des Sillicon-Valley) bereits in seinem ersten Jahr. In einer Think-Tank-ähnlichen Organisation entwickelte er die Plattform infogami, welche bald darauf mit dem jungen Netzwerk reddit [3] fusionierte. Im Alter von 19 Jahren war er damit Co-Gründer der heute drittmeist besuchten Seite des Internet. Reddit wurde bald vom Conde Nast-Konzern aufgekauft und Swartz fand sich in einem streng verwalteten Bürojob wieder. Gefrustet von der Arbeit ließ er sich durch Fernbleiben von der Arbeit feuern und wandte sich wieder Projekten zu, die ihm wichtiger waren.
In dieser Zeit machte sich die starke Politisierung Swartz bemerkbar. Er entwickelte Seiten, über die Wistleblower*innen sicher Dokumente weitergeben konnten und startete eine Website namens Demand Progress [4]. Die Website hilft Menschen, sich für die Durchsetzung politischer Ziele zu organisieren. Swartz veröffentliche in diesem Zeitraum zudem das Guerilla Open Access Manifesto [5]. Das Manifest spricht sich dafür aus, wissenschaftliche Artikel der Allgemeinheit kostenlos zugänglich zu machen. Im Normalfall werden diese Artikel von wissenschaftlichen Verlagen veröffentlicht, die diese dann wiederum kostenpflichtig vertreiben. D.h. auch die Forschung staatlich finanzierter Universitäten, muss von ebendiesen Universitäten gegen mindestens fünfstellige Beträge pro Jahr erworben werden. Das gilt sowohl für die United States, als auch für Deutschland. Swartz sprach sich dafür aus, die Artikel öffentlich zugänglich zu machen, da Wissen die Grundlage der menschlichen Entwicklung darstellt und es eine fatale Entscheidung ist den Zugang zu diesem Wissen zu begrenzen.
Swartz begann sich verstärkt für Politik zu interessieren und bekam von einem Freund den Hinweis, dass die Gerichtsakten regionaler Gerichte in den USA nur kostenpflichtig einsehbar waren. Da viele Prozesse sich auf dieser Verwaltungsebene entwickeln und dann in höheren Instanzen weiter verhandelt werden, ist die Kenntnis dieser Akten nicht unwichtig für das Verständnis der späteren Prozesse und deren Folgen für die amerikanische Rechtsprechung. Swartz rief online die Menschen, welche bereits Akten gegen Bezahlung heruntergeladen hatten, dazu auf die Akten auf einer von im programmierten Internetseite hochzuladen und damit kostenfrei zugänglich zu machen. Durch diese Aktion aufgeschreckt startete die amerikanische Verwaltung ein Pilotprojekt: In 20 öffentlichen Bibliotheken wurde es an den dort vorhandenen Rechnern ermöglicht die Akten kostenlos einzusehen und herunterzuladen. Aaron Swartz schrieb einen Algorithmus, der in kürzester Zeit fast die gesamte Datenbank über einen dieser Rechner herunterlud. Das FBI tauchte vor Swartz Elternhaus auf, nahm aber keine juristische Verfolgung der Angelegenheit auf. In der Folge ab die staatliche Verwaltung endlich nach und machte die Unterlagen den Bürger*innen online dauerhaft kostenlos zugänglich.
Nach einer ähnlichen Methode lud Swartz kurz darauf aus dem Universitätsnetz der Harvard-University an der er als Fellow angestellt war, mit Hilfe eines Algorithmus mehrere tausend Artikel aus juristischen Fachzeitschriften herunter und konnte durch eine Analyse nachweisen, dass deren Ergebnisse stark abhängig von den jeweiligen Geldgeber*innen waren.
Im Juli 2011 lud Swartz abermals über das Universitätsnetzwerk des MIT mehrere Millionen Artikel aus der Datenbank des JSTOR Verlages herunter. Nachdem das MIT und JSTOR diese massenhaften Downloads bemerkte, sperrte JSTOR dem MIT für kurze Zeiten mehrfach pauschal den Zugriff auf seine Datenbank. Swartz umging diese Blockaden, indem er den Laptop und die Festplatte, mit denen er die Downloads durchführte in einem Kellerraum des MIT direkt an das Netzwerk anschloss. Nachdem der Laptop entdeckt wurde, wurde dieser allerdings nicht entfernt. Stattdessen brachte das MIT eine Kamera in dem Raum an und lies den Rechner weiter laufen. Als Swartz einen Tag später die Festplatte auswechselte, zeichnetet die Kamera dies auf und das MIT verständigte die Polizei. Swartz wurde vor seinem Apartment vom Fahrrad gezerrt und in Untersuchungshaft genommen. Gegen Zahlung einer Kaution von 100.000 USD kam er wieder auf freien Fuß. Das Verfahren gegen ihn nahm allerdings seinen Lauf.
Die zuständige Staatsanwaltschaft nahm das Guerilla Open Access Manifesto zum Anlass Swartz zu unterstellen, er habe die Artikel heruntergeladen, um diese unter Umständen frei zugänglich zu machen. Freunde von Swartz erklärten, dass dieser jedoch mehrfach angedeutet hatte, mit den Artikeln Forschungen über den Klimawandel überprüfen zu wollen, wie er es zuvor bereits mit den juristischen Artikeln getan hatte (ohne die heruntergeladenen Artikel zu veröffentlichen – womit deren Download keine Straftat darstellt). Nach den Veröffentlichungen von WiKi-Leaks und Edward Snowden war die Staatsanwaltschaft jedoch auf eine harte Linie gegen „Cyberkriminalität“ erpicht. Auch nachdem der Verlag JSTOR von sich aus auf seine möglichen rechtlichen Ansprüche gegen Aaron Swartz verzichtet hatte, trieb die Staatsanwaltschaft den Fall weiter voran.
Bis Aaron Swartz, durch die Prozesskosten finanziell ausgeblutet, dem Druck und der Angst vor dem Ausgang des Prozesses nicht mehr konnte. Eine Zukunft in der Politik, die er schon seit ein paar Jahren als vorrangiges Ziel ansah, wäre ihm durch eine Verurteilung wohl nachhaltig unmöglich gemacht worden. Mit dem Schwinden der Hoffnung, einer Verurteilung zu entgehen, entschied sich Aaron Swartz, der sich in den letzten zwei Jahren seit der Verhaftung und während des Prozesses weiterhin sehr stark (netz)politisch engagiert hatte, gegen jede weitere persönliche Zukunft und beendete sein Leben.
Treffend stellte Cory Doctorow, ein kanadischer Autor und Journalist, in einem Nachwort fest:
„Aaron had an unbeatable combination of political insight, technical skill, and intelligence about people and issues. I think he could have revolutionized American (and worldwide) politics. His legacy may still yet do so.“
Daran denke ich inzwischen jedes verfickte mal, wenn ich für einen zehnseitigen Artikel 30 Dollar bezahlen soll, ohne zu wissen, ob dieser Artikel mir für meine Arbeiten überhaupt weiterhilft.
Hilfe und Beratung:
Menschen, die Suizidgedanken haben, finden bei der Telefonseelsorge online oder telefonisch unter den kostenlosen Hotlines 0800-1110111 und 0800-1110222 rund um die Uhr Hilfe. Jeder Anruf ist anonym, kostenlos und wird weder von der Telefonrechnung noch vom Einzelverbindungsnachweis erfasst. Direkte Anlaufstellen sind zudem Hausärzte sowie auf Suizidalität spezialisierte Ambulanzen in psychiatrischen Kliniken, die je nach Bundesland und Region unterschiedlich organisiert sind. Eine Übersicht über eine Vielzahl von Beratungsangeboten für Menschen mit Suizidgedanken gibt es etwa auf der Website der Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention.
Angehörige, die eine nahestehende Person durch Suizid verloren haben, können sich an den AGUS-Verein wenden. Der Verein bietet Beratung und Informationen an und organisiert bundesweite Selbsthilfegruppen.
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