So müde, wie sie wütend sind.

Bildrechte: Philipp Steiner.
Der Hambacher Forst bzw. Bürgewald wird seit über sechs Jahren von AktivistInnen besetzt, um ihn vor drohenden Rodung durch den RWE zu schützen. Der Energiekonzern wiederum hat das Gelände erworben, um die darunter liegende Braunkohle fördern zu können. In den letzten Jahren kam es im Zuge der Räumungsversuche bereits zu Verhaftungen und Demonstrationen. Ab Oktober 2018 sollen die letzten etwa hundert Hektar Wald abgeholzt werden, die ein wichtiges Habitat für geschützte Tierarten darstellen. Die meisten Rodungsversuche wurden durch die Besetzung bislang erfolgreich verhindert. Seit dem 13.09.2018 allerdings wird der Wald in Auftrag des Landesbauamtes polizeilich geräumt. Die Beamten bauen in Zusammenarbeit mit dem RWE die bewohnten Baumhauskonstruktionen zurück, die die Bäume vor dem Fällen geschützt haben. Baurechtlich begründet, sei der Polizeieinsatz laut Bauamt getrennt von der Braunkohleförderung zu betrachten. Gemäß Bauordnung müssten die Konstruktionen über Geländer und Rettungsleitern verfügen, die sie nicht aufweisen. Die Beschlagnahme der im Wald befindlichen Feuerlöscher durch Einsatzkräfte der Polizei hatte zusätzlich den Räumungsgrund der akuten Waldbrandgefahr zur Folge. Mit wachsender öffentlicher Aufmerksamkeit wuchsen auch die Proteste im und um den Hambacher Forst. U.A. der BUND, Grüne, Linke und Greenpeace riefen bereits zur Teilnahme an den Protesten gegen die Rodung zur Braunkohlegewinnung auf. Nachdem vergangene Woche ein Journalist tödlich verunglückt ist, stellte die Polizei die Räumungen offiziell ein, um Zeit zur Trauer zu geben. Laut BesetzerInnen sollen Beamte dennoch weiter Barrikaden und Baumhausmaterial aus dem Wald geschafft haben. Seither kommt es fast täglich zu Auseinandersetzungen zwischen Räumungskräften, BesetzerInnen und DemonstrantInnen. Die Gewaltlosigkeit des Widerstands von BesetzerInnen und DemonstrantInnen wurde in einzelnen Auseinandersetzungen mit Polizeibeamten gebrochen. In den letzten zwei Wochen wurden laut Polizei über 200 Menschen in Gewahrsam genommen, über 100 festgenommen und 670 Platzverweise notiert. Weiter wurden etwa 30 PolizistInnen leicht verletzt und über 40 Einsatzkräfte mit Fäkalien beworfen. Zuwiderhandlungen gegen die Staatsgewalt wurden mit Geld- und Gefängnisstrafen sanktioniert. Der Großeinsatz geht weiter. Im Dezember letzten Jahres waren wir für unsere Reportage schon einmal im Hambacher Forst, damals hielt der RWE noch keine öffentlichen statements. Nach dem Tod des Journalisten kürzlich äußerte sich RWE-Chef Rolf Martin Schmitz öffentlich mit Bedauern. Den Wald aber vor der Rodung zu bewahren sei eine Illusion, die Rodung des Waldes längst nicht mehr zu verhindern. Die ausfallenden Einnahmen einerseits und die extremen anfallenden Kosten andererseits machten es wirtschaftlich unmöglich, das Waldstück zu erhalten. Die BesetzerInnen seien daher Straftäter, die einberufene Kohlekommission sei zu schnellen Entscheidungen ohnehin nicht qualifiziert. Er fühle sich von der Regierung im Stich gelassen und fordert ein härteres, ordnendes Durchgreifen von Wirtschaftsminister Peter Altmaier.  Die AktivistInnen und DemonstrantInnen ihrererseits wollen ein klares Zeichen setzen. Am 22. und 23.09.2018 waren wir wieder vor Ort, um ein aktuelles Bild zu liefern.


 

Ich weiß nicht recht, wie ich dem Erlebten Schriftform verleihen soll. Durch einen Bericht? „Ein paar tausend Menschen empört bei Waldspaziergang im besetzten Hambacher Forst. Das Wetter war schlecht.“ Nein, das wäre zu leblos. Für eine fortsetzende Reportage dagegen fehlt unsere Protagonistin. Denn wie wir erfahren haben, sitzt unser Kontakt Jessy seit der Räumung des Dorfs Gallien auf unbestimmte Zeit in Gewahrsam oder U-Haft – fest, eben.
Ich kann nicht so tun, als sei ich unparteiisch. Das bin ich offensichtlich nicht. Die Ungerechtigkeit am Hambacher Forst lässt sich mir nicht objektivieren, das Geschehen nur schwer anhand von Hardfacts vermitteln. Was wir dort erlebt haben, ist intersubjektiv und zu vielschichtig für eine klassische Form. Was wir erlebt haben, zeichnet sich vor Allem durch die widersprüchlichen Gefühle und Gedanken aus, durch die Begegnungen, die diesen Protest so lebendig machen. Dieses Lebendige ermutigt schließlich auch die AktivistInnen und DemonstrantInnen zu dem enormen Selbstbewusstsein, mit dem sie sich gegen den RWE auflehnen. Dort draußen im Wald sind keine Despoten, Straftäter und Krawallmacher am Werk, im Gegenteil. Die spüren etwas. Wer dorthin kommt, spürt es auch. Dieser Protest lebt von einer intelligenten Wut und von der Bewunderung für jene, die sich auf spektakuläre Weise opfern, um dem Leben an sich einen Sinn zurück zu geben. Das ist nicht logisch. Mit reinem Kopf kommt man dem nicht bei. Ich berichte also ausführlich von unseren Eindrücken – was wir gesehen, gedacht und gefühlt haben.

Ein Erlebnisbericht.

Samstag Morgen am Frühstückstisch. „Komm doch einfach mit, wir haben noch einen Platz im Bus frei.“ „Aber ich muss Montag arbeiten. Und morgen beim Umzug helfen“. „Ach komm. Das ist größer, als deine Küche. Und du kannst deinen Artikel über den Wald wieder aufnehmen. Bis morgen Mittag sind wir zurück.“
Man sagt: Das letztendliche Entscheidungskriterium, zu einer Demonstration zu gehen, sei die Tatsache, dass die eigenen Freunde dort sind. Das stimmt. Der Hambacher Forst hatte sechs Jahre, um Menschen und ihre Freunde um sich zu scharen. Es sind sehr viele geworden, und es wurden schnell mehr.
Denn im Wald werden dringend Menschen gebraucht, heißt es. Menschen, die die Stellung halten. Menschen, die Decken, Isomatten, Jacken, Klettergurte und Seile, Essen, Unterhosen mitbringen und Zelte, Planen, Holz, Tee und Bier ran karren.
Ein freundliches Lächeln unsererseits ringt der allernächsten Nachbarschaft einen Berg von Spenden ab, den wir kurzerhand einladen und verstauen. Die Polizei ließ verlauten, dass das Mitführen einer Kletterausrüstung in der Nähe des Waldes die sofortige Verhaftung zur Folge hat. Darum haben wir jegliches Kletterzeug ausdrücklich aussortiert (und nicht im unübersichtlichen Haufen versteckt!!;)!!). Denn das wäre strenger sanktioniert worden, als das Hinwegsetzen des RWE über den Willen der gesamten Landesbevölkerung sowie das europäische Naturschutzgesetz zwecks Durchsetzung von Firmeninteressen. Firmeninteressen, die auf der Grundlage Jahrzehnte alter Verträge und längst überholter Technologien beruhen und die Vernichtung eines kompletten – dabei ästhetisch, sowie ökologisch und intrinsisch entwerteten – Ökosystems durchsetzen.
Das Leben hat keinen intrinsischen Wert. Die Ästhetik hat keinen Wert mehr. Der Mensch, der sich in beidem spiegelt, hat keinen Wert mehr. Das ist der bittere Eindruck, der nach dem Besuch noch schauerlich nach hallt, und der so viele Menschen nachhaltig entrüstet. Und der auch der Grund ist, warum wir so spät erst berichten.

Am Tag unserer Ankunft kontrolliert die Polizei am Wald stichprobenartig Autos. Kletterequipment und Baumaterial werden gleich konfisziert, wir werden einfach durchgewunken. „Da vorn, bei der Fahne. Halt hier mal an.“ Wir sind auf dem Weg zur Mahnwache, um uns zu orientieren, uns auf den neuesten Stand zu bringen und um einen geeigneten Zeltplatz zu suchen. Die Mahnwache ist ein Provisorium aus Planen, Zelten, und Fahnen. Sie liegt an der Landstraße, die einige hundert Meter vom Waldeingang entfernt durch die Äcker und Felder zwischen Autobahn und Wald entlang führt. Die Seitenstreifen sind gesäumt von unzähligen Autos und Polizeibussen. Mindestens dreißig Hundertschaften seien hier, heißt es.
An der Mahnwache erfahren wir die wichtigsten Neuigkeiten. Jeden Tag ändert sich die Lage, also schnattern alle nach, was sie zuletzt gehört haben: »Sämtliche Eingänge in den Wald sind jetzt für Autos gesperrt! Stadt Bochum hat die Verträge mit RWE aufgekündigt! Zufahrten zum Wiesencamp vor dem Wald komplett gesperrt! Eintritt in den Wald zu Fuß möglich! Lieferungen mit Essen und Trinken werden durchgelassen!«
Das Publikum hier ist gut durchmischt. Etwa von 18 bis 60, Frauen und Männer, ohne vornehmlichen sozioökonomischen Status. Grüne, Rote, Schwarze. Alle mischen mit. Alle sind hier, weil sie es wollen. Einzig die tausenden Polizeibeamten wirken ernst und verdrossen. Abgekämpfte Gesichter, teils hinter Masken versteckt. Viele schieben eine zwölf-Stunden Schicht nach der anderen. Eine Helferin erzählt mir an der Mahnwache von einem Gespräch mit einer jungen BeamtIn: „Ich will auch nicht, dass das hier abgeholzt wird. Aber wenn ich den Einsatz verweigere, bekomme ich Probleme mit Beförderungen“, soll sie verteidigt haben. Auch wir sprechen mit freundlichen und hilfsbereiten Einsatzkräften. Bekommen dagegen Bilder von DemonstrantInnen gezeigt, die im Zuge von Polizeieinsätzen mit Kabelbindern über Stunden an Bäume gefesselt wurden. Dann Bilder weinender Einsatzkräfte bei der Pressekonferenz zu dem tödlichen Unfall letzte Woche. Solche Geschichten hört man hier alle paar Stunden: „Ich will das nicht, aber ich muss jetzt einen Schritt vor gehen. Bitte geh zurück. Bitte, ich will dich nicht schubsen.“ Polizeibeamte, die nicht tun wollen, was sie tun. Und alle sind sie müde. So müde, wie sie wütend sind. Alle empfinden die Rodung des Waldabschnitts als Unrecht, als ein unnötiges Übel. Und spätestens seit dem Tod eines jungen Journalisten vorige Woche hat niemand mehr Lust, zu kämpfen. Einige Beamte sollen sogar den Dienst verweigert haben. Aber die Räumung gingen am Tag nach dem Unfall trotzdem weiter. Das örtliche Durchgreifen durch Polizeibeamte wirkt willkürlich. Wo hier zwei Augen zugedrückt werden, wird dort hart zugegriffen. Wer in Gewahrsam oder festgenommen wird, ist unvorhersehbar. Manchen BesetzerInnen drohen sechs Monate (U-)Haft, andere kommen noch am selben Abend wieder frei. Die Einen fürchten einen weiteren Polizeikontakt, die Anderen verhärten sich. Recht. Jetzt erst Recht. Es das ist eine Frage des Glücks, und des Charakters. Gemeinhin aber kommt die Repression immer verspätet an – das unberechenbare Durchgreifen des riesigen Polizeiaufgebots zeigt keinen abschreckenden Effekt, im Gegenteil. Es tut allen Beteiligten einfach nur öfter weh.
»Huawei Handy gefunden! Taxifahrten von der Gesa zurück in den Wald benötigt! Werkzeug und Klettergurte führen zu Gewahrsam oder Festnahmen! Plätze frei auf dem Hambi Camp hinter Manheim!«

Bildrechte: Philipp Steiner. Eingang zum Hambi Camp bei Nacht.

Unter einem grünen Banner hindurch geht es auf die Obstwiese des Hambi Camp Manheim und das Infozelt zu. „Die Anmeldung ist da vorn“. Einweisung durch eine Camperin. „Dort hinten sind die Wishfairies – Logistik und Akquisition. Hier links das Workshopzelt. Konzerte und so. Gleich daneben Küchenzelt, Kaffee- und Teezelt. Gleich daneben drei Zelte, in denen man schlafen und sich aufhalten kann, wenn man keine Ausrüstung hat. Außerdem sind dort später Plena. Eure Materialspenden gebt ihr im Materialzelt ab, Essensspenden in der Küche. Im Wald sind Komposttoiletten. Bitte achtet auf euren Müll. Achja, im Kioskzelt gibt‘s Saft und Bier!“. Wir bauen unser Zelt auf, und besuchen die Plena. Hier erfahren und diskutieren wir, was geplant wird.

„Achtung Achtung liebe Hambifreunde, wir werden euch jetzt mit dreckigem Lärm beschallen“. Es ist Abend, eine berliner Oi!Punkband reißt ihre Songs runter: „Von der Platte für den Hambi oi!oi!oi!“. In der Halbzeit schnappt sich einer das Mikrophon und verkündet, dass zwei Kinder von Polizeibeamten in Gewahrsam sitzen. Neuer Song, im Chor: „Eure Kinder fahren bei euch ein!“ Der Festivalflair ist nicht zu leugnen. Doch es ist gut, dass nachts gefeiert wird. Denn tagsüber werden fast nur Niederlagen eingesteckt. Sollen die doch den Tag haben. Die Nacht gehört uns. Es wird erzählt, diskutiert, getrunken, gespielt, getanzt. Was Leute eben nachts so machen. Die Schatten spenden Trost. Und sie spenden Schutz, um Güter in den Wald zu schmuggeln.

Am nächsten Morgen nach den Frühstück bewegt sich alles zur Demo bei der Mahnwache, genauer auf dem Feld daneben. Es regnet, und ein kalter Wind bläst uns auf dem Feld entgegen. Für später ist Sturm angekündigt worden. Umso größer die Empörung, als laut wird, dass die angemeldete Demonstration per Eilverfahren verboten worden ist. Per Eilverfahren an einem Sonntag Morgen. Die Kundgebung hier im Freien darf dennoch stattfinden. Wegen spontanem Personalmangel bei der Bahn sollten die Züge aus Richtung Köln heute Morgen nicht ankommen. Dennoch kamen deutlich mehr, als die 5000 erwarteten TeilnehmerInnen. Über 7500 sammelten sich auf dem Acker vor dem Wald. Die Polizei hat ihr Personal auf über 3000 Beamte aufgestockt. Wie es heißt,  kontrolliert die Polizei heute die Trampelpfade, auf denen man bisher noch unbehelligt spazieren konnte. Die Kundgebung selbst verläuft ruhig – Reden im Regen. Es folgen Stimmungsvolle Songs, die dem Hambi gewidmet sind oder die Proteste thematisieren. Der Geigenklaus schmettert eine schnell geschusterte Ballade nach der anderen. Jemand erzählt einen Witz: „Was haben eure Maschinen mit unseren Wäldern gemeinsam? Sie tun uns besser, wenn sie stehen bleiben.“ Dazu Solidaritätsbekundungen aus der ganzen Welt, Reden im Regen. Rechtsanwalt Christian Mertens habe Klage dagegen eingereicht, dass niemand den Wald betreten darf. Es spricht sich herum, dass man heute dennoch privat im Wald spazieren gehen dürfe, in kleinen Gruppen sei das erlaubt. Ob das stimmt oder nicht, scheint unwichtig.

Bildrechte: Philipp Steiner. Die Kundgebung auf dem Acker wandert langsam ab.

Die Menge wandert einfach langsam ab in Richtung Wald, und tastet sich voran. Eine Warnung der Polizei schallt noch durch den Regen über den Acker: Es bestünde wegen der Witterung akute Lebensgefahr in der anliegenden Kiesgrube. Die Menge findet einen Pfad um die Kiesgrube herum, und die Polizei versucht sich an einem Leitsystem: „Bitte gehen Sie dort entlang.“ „Nein, ich kann Ihnen nicht sagen, warum. Bitte dort entlang.“ Manche lachen darüber, manche setzen sich darüber hinweg. Um sich dann nach wenigen Metern wieder dem Strom anzuschließen. Hier kennt sich nämlich kaum jemand aus. Keiner weiß, wo lang. Eine seltsame Stimmung entsteht hier auf dem Feld. Tausende Menschen, die hintereinander durch den Regen watscheln – schmatzend, mit Lächeln oder Grummeln, immer dem nächsten Arsch nach. Irgendwie gehört man jetzt zusammen. Tausende Menschen im Matsch, die doch eigentlich gegen das Handeln einer schier unangreifbaren juristischen Person protestieren wollen. Der Moment lässt uns erstmals ahnen, dass diese Sache mit dem Hambacher Forst etwas Besonderes ist. Dass es hier nicht einfach nur um diesen Wald geht. Für ein so kleines Waldstück gehen nicht so viele Menschen miteinander durch den Matsch. Die meisten würden auf der Straße kein Bier miteinander trinken wollen, geschweige denn miteinander reden. Warum also ein Stückchen Wald retten – nur, weil die eigenen Freunde hier sind? Hier wirkt mehr, als eine Sache. Und plötzlich herrscht da ein Gefühl von Wehrlosigkeit. Gegenüber dem Tun des großen, gemeinen Energieriesen. Gegenüber dem langen Arm der unbarmherzigen Ersten Welt. Gegenüber den Auswirkungen des hemmungslosen Wachstums. Im Regen zwischen uns entblößt sich eine Schizophrenie unserer Welt – zwischen ihrer Moral, ihren perfiden Logiken um dieselbe zu umgehen und ihrem unliebsamen, ewigen Wachstum. Da ist eine Ahnung auf dem Feld, dass sich das hier gar nicht mehr abwenden lässt. Aber trotzdem sind alle hier. Es wird fühlbar, dass die Demonstrationen und Polizeieinsätze hier nur akute Facetten eines viel größeren Problems sind.

Kurz vor dem Waldeingang führt die Polizei Taschenkontrollen durch. Auf der Suche nach potenziellen Waffen, nach Werkzeug und Klettersachen hält sie an, die Taschen zu öffnen. Einige werden strenger kontrolliert, andere halbherzig bis gar nicht. Ich selbst laufe einfach durch, den Mützenschirm tief im Gesicht. Ein paar Meter weiter demontieren sie einen Kinderwagen.
Das Wetter wird mit jeder Minute schlechter, der Wind schneidet zwischen unseren nassen Schals und durchweichten Regenjacken hindurch. Schwarze, durchnässte Polizeipatrouillen marschieren in Schlangen durch den Wald. Überhaupt trägt außer der Polizei fast niemand schwarz.

Bildrechte: Philipp Steiner. Eines der letzten Baumhäuser, das von SpaziergängerInnen mit Barrikaden geschützt wird.

Wir finden eines der übrigen Dörfer – zumindest seine Überreste. Fast alles ist zerstört. Bäume sind gefällt worden, Seile hängen von den Bäumen. Auf dem Boden liegen noch Baumaterial und Baumstämme. Die SpaziergängerInnen (ehem. DemonstrantInnen) haben begonnen, die Barrikaden gemeinsam wieder aufzubauen, um die letzten Baumhäuser unzugänglich zu machen. Da schuften alt und jung gemeinsam, um eine verlorene Bastion zu schützen. Ein zögerlicher Journalist verstaut seine Kamera, um mit zu helfen. „Hey. Ich will auch nicht, dass der Wald gerodet wird.“
Von der Anwesenheit der Polizei lässt sich niemand verunsichern. Die Leute ignorieren sie und arbeiten in Ruhe weiter an den Barrikaden. Scheiß doch auf die. Klar, die tun ihren Pflicht, aber wir hier tun das auch. Das alles hier soll bald weg sein – das geht gar nicht. Die Beamten provozieren und lassen sich provozieren. „Geht weg! Geht weg!“, rufen immer mehr Leute, „Hambi bleibt! Hambi bleibt!“. Ein Stock fliegt durch die Luft, zeitgleich hebt sich ein Polizeiknüppel über die Köpfe und geht irgendwo nieder. Und noch einer. Die Menge rennt zurück, fängt sich, rennt wieder vor. Knüppel gehen nieder, die Menge schwappt wieder in den Wald. „Pfeffer!! Achtung! Pfeffer!“, jemanden hat es erwischt. Zwei Dosen Pfefferspray, eine auf jedes Auge, wie wir später erfahren. Die PolizistInnen lassen sofort von dem Opfer ab. Ein falscher Schritt im falschen Moment. War das wirklich sein Fehler? Die Menge zieht den jungen Mann aus der Gefahrenzone und drängt kurz darauf die Polizei aus dem Wald, die das Feld räumt. „Es gibt ein Recht auf Dienstverweigerung“, ruft die Menge den Beamten hinterher. Zorn und Euphorie. Die Luft brennt ein bisschen in Augen und Rachen. Was soll denn das jetzt mit dem Pfefferspray. Wem hilft das. Scheiß RWE. Wer ist überhaupt dieser RWE? Mit welcher Selbstverständlichkeit dürfen juristische Personen wie der RWE solche Psychopathen sein? Wieso darf dieses Unternehmen etwas so Schönes zerstören, darf aber nicht dafür belangt werden? Wem dienen diese gesichtslosen Prügelaffen dort. Warum müssen jene, die ihr Leben dem Staat verschrieben haben, jetzt Pfefferspray schießen, um sich sogar gegen den eigenen Willen gegen ebenjene durchzusetzen, die ihn bilden – nämlich gegen die Bevölkerung, die hier ausnahmsweise mal wirklich geschlossen und solidarisch auftritt?
Die Polizei scheint aus der Ecke des Waldes abzuziehen. Vorerst. Es wird kurz gefeiert, im Regen getanzt. Trommeln ertönen. Prügelaffen weg, Tanzaffen bleiben. Nein. Prügelaffen kommen wieder. Tanzaffen… ach, was soll‘s.
Es beginnt zu stürmen. Die SpaziergängerInnen feiern noch kurz, helfen beim Aufbau der Barrikaden. Dann wird der Wind stärker, und einige tausend SpaziergängerInnen machen sich auf den Weg durch die Nässe und Eiseskälte, zurück in‘s Warme und Trockene. Sofern man es hat. Etwas später wieder Schreie und Rufe, jetzt aus der Ferne. Affen. Wir spüren unsere Knochen frieren, sind völlig durchgefroren, frustriert, werden müde. Egal, weiter. Hoffentlich nimmt das hier ein gutes Ende. Wir wollen nur noch Ruhe, trockene Kleidung und eine warme Decke. Eine warme Decke für den Hambi.
Im Camp warten versunkene Blicke, warme Nudeln mit Soße, Kaffee und Tee auf uns alle. Gespräche, Evaluationen, Geschichten und Neuigkeiten. Einige Unterkühlte werden von weniger Unterkühlten aufgepäppelt. Die Wenigsten aber fahren ab. Manche wollen jetzt noch länger bleiben, mehr Hilfe leisten. Dieser Protest braucht noch mehr Aufmerksamkeit und mehr Streitgrundlage. Öffentliche Meinung und Umweltschutzgesetze bauen Druck auf. Recht. Jetzt erst Recht.

 



Ein Kommentar des Autoren.

In der kurzen Zeit im Hambacher Forst wurde uns klar, warum er partout nicht aufgegeben wird. Denn hier äußern sich viele Menschen, und aus vielerlei Gründen gegen die Rodung. Es geht ihnen nicht bloß um diesen Wald. Es geht ihnen auch nicht bloß um den Kampf gegen Repression durch Polizeigewalt oder das Revoltieren gegen ein System, an dessen Schlauch wir hängen. Es geht um die sich mit aufklarendem Blick zunehmend verdüsternde Zukunft, die wir alle teilen. Klimawandel, Nahrungsmittelproduktion, (Bio-)Ethik, Biodiversität, Grenz- und Ressourcenkonflikte – wo sollen wir anfangen? Hier.
Manche äußerten das Gefühl, dass hier im Wald Geschichte geschrieben würde. Eine merkwürdige Geschichte zwar, aber darin kamen wir überein: Die Geschichte der Rodung wurzelt irgendwo in der Geschichte der Industrialisierung. Das Einvernehmen, mit dem die Menschen seit jeher global agieren, hat Folgen, die sich uns langsam offenbaren. Was früher nur Theorien und Prognosen waren, verwirklicht sich heute, und das tut weh. Hier im Hambacher Forst wollen sich die Menschen vor Ort gegen die Schattenseite ihres Wohlstands wehren. Die Strenge, mit der der Hambacher Wald gerodet wird, mutet im Hambacher Forst als Sinnbild für die Folgen unseres Handelns außerhalb des Waldes an. Wenn mensch früher etwas weg nahm, dann fehlte es eben. Aber heute scheint es plötzlich für immer zu fehlen, und es fehlt plötzlich allen. Die Perspektiven der Individuen haben sich entwickelt, aber das System entwickelt sich kaum mit, solange es funktioniert: „Never change a running system“. Das System, in diesem Fall vertreten durch den ach so bösen RWE, interessiert sich für Gegenwart und Zukunft eben nur mit Blick auf seine Selbsterhaltung – selbst in seiner Ethik. Es bringt daher natürlich nichts, einzig auf der Person des RWE herum zu hacken. Etwas muss getan werden, damit das gesamte System lernt – wo sollen wir anfangen?

Die Corporate Responsibility wird hier im Wald zu einem Gespenst der Hoffnung. Die Proteste im Hambacher Forst tragen die Hilflosigkeit der Menschen ob ihrer eigenen Gespaltenheit zutage. Sie wollen das System stören, um es zu ändern, damit es auch sie ändert. Darum projizieren sie alles Übel auf den Einen, der in Schusslinie liegt, und treffen den RWE. Das ist zwar kurzsichtig, unlogisch – aber auch intelligent.
Denn klar, Fortschritt braucht Ressourcen. Medizinische Versorgung, Lebensmittelproduktion, Wohlstand (und wir gehen alle davon aus, dass jede eher mehr bekommen sollte, als sie braucht, als weniger, als sie braucht) fußen wiederum auf unserem technischen wie kulturellen Fortschritt. Worauf wollen und können wir verzichten? Wie können wir das entscheiden und kontrollieren? Können wir überhaupt wirklich selektieren? Wer übernimmt die Verantwortung, wenn sie diffundiert?
Am Ende sind es alle Individuen, die von den Entwicklungen der Vergangenheit profitieren und dieses System mitsamt vieler seiner Fehler reproduzieren. Aber eine Menge von Menschen kann ausbrechen, eine strenge Logik überwinden, unlogisch handeln und neue Maßstäbe und Rahmenbedingungen schaffen, um neue Regeln zu schreiben. Verantwortung, Investitionen in regenerative Energien und Empathie sind selbst heute in rein unternehmerischer Logik noch kaum realisierbar (und damit rechnen auch die Aktionäre). Aber das waren Krankenkassen, Massenproduktion und repräsentative Demokratie einst auch. Es kommt auf den Rahmen an, den wir immer, stets und ständig mitgestalten. Wer trägt also die Verantwortung dort draußen, während wir hier im Wald plötzlich von einem despoten Haufen zu einem heterogenen und wilden Kollektiv werden? Hier im Wald verschieben sich die Perspektiven noch einmal. Wir wollen den Wald beschützen, denn er ist neben uns nicht überlebens-, geschweige denn durchsetzungsfähig. Der RWE dagegen mutiert hier im Wald zu seinem Antagonisten und Feindbild, wie es im Buche steht: Eine böse Aktiengesellschaft, ein fieser Umweltverschmutzer. Ein skrupelloser, globaler Akteur im zerstörerischen Geschäft der Energieproduktion – gebunden an die kapitalistischen Zwänge, die uns den vollen Bauch bescheren. Er mutiert zum Inbegriff vieler Probleme in unserer Welt. Zum seelenlosen Psychopathen, einem kurzsichtigen und von langer Hand planenden Rationalisten. Zum ewigen Gewinnertyp, der mit jeder Gewalt und allen Mitteln den höchsten aller möglichen Profite einfahren wird. Er fördert, was ihm hilft, und verhindert, was ihm schadet. Darin ähnelt er uns sehr. Mit einem Unterschied: Er kann sich in seiner Lage nicht entscheiden, anders zu handeln. Wir dagegen schon.

Setzen wir also ein Zeichen. Bis hierhin, und nicht weiter: Das hier ist der Handlungrahmen. Zeigen wir dem RWE, dass seine Illusion der völligen Handlungsfreiheit nicht haltbar ist, und schützen wir den Wald mit allen – gewaltlosen – Mitteln vor der Rodung. Sorgen wir vor gegen die letztendliche Konsequenz des globalen Handelns: dass wir uns schürfend den fruchtbaren Boden unter den eigenen Füßen weg baggern.
„Hört auf, die Hand zu beißen, die euch füttert“, mag der RWE uns vorwerfen. „Trag mich doch weg!“, sagen wir. Und nehmen am sechsten Oktober 2018 mit umso mehr Freunden an der deutschlandweiten Großdemo teil und kommen zurück in den Hambacher Forst.

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