Innere Migration, Widerstand, Wehrpflicht, Verstrickung. Vieles kann das Handeln von Autorinnen und Autoren während der Zeit des Nationalsozialismus beschreiben. Welche Auswirkungen hat das heute für uns auf das Lesen ihrer Werke?
„Geh fort wenn du kannst“
Vor einigen Wochen las ich unverhofft die Novelle „Geh fort wenn du kannst [sic!]“, geschrieben von Luise Rinser (1911-2002), erstmals 1959 veröffentlicht. Die Autorin war mir bisher gänzlich unbekannt, allein der Titel hatte mich beim Griff in das Regal gelockt, das kurze Exposé auf der Innenseite des braunen Umschlags bestärkt, es auch mitzunehmen.
Erzählt wird die Geschichte zweier Frauen, die zunächst gemeinsam aktiv als Teil der Partisanenkämpfe, später nach Flucht in einem verlassenen Kloster lebend das Ende des italienischen Faschismus erleben. Nachdem die Nonnen des Klosters zurückgekehrt sind, beschließen beide, dort zu bleiben und Novizinnen zu werden. Was bewegt zwei junge Frauen, die vormals dem Kommunismus zugewandt waren, zu dieser Entscheidung? Diese Frage trieb mich zur Lektüre und sie wurde noch brennender, als klar wurde, dass die beiden Protagonistinnen jederzeit die Wahl hatten zu gehen. Der Titel der Novelle entstammt einem Klosterspruch „[…] egredere si potes“ (dt. […] geh fort, wenn du kannst) und kann bei aller vermeintlichen Eindeutigkeit doch zwei unterschiedliche Lesarten beinhalten: Einerseits als Aufforderung, stets zu gehen, wenn man dazu in der Lage ist, andererseits als Begründung, zu bleiben, wenn man gehalten wird.
Die Novelle war in einer Nacht gelesen, sie hatte mich in ihren Bann gezogen. Begeistert ob der Entdeckung einer erfrischenden, talentierten Erzählerin las ich auch das Nachwort von Hans Bender, der ihr schriftstellerisches Schaffen und dem für sie damit untrennbar verbundenen politischen Engagement in hohen Tönen lobte. Hätte ich hier misstrauisch werden sollen? Die Ausgabe stammte von 1981. Frau Rinser war zwar in der Tat nach dem Zweiten Weltkrieg eine führende Stimme des Linkskatholizismus und setzte sich gegen den Abtreibungsparagraphen (§218 StGB) ein, propagierte Frieden entgegen den Bestrebungen in den 1980er Jahren, amerikanische Pershing-Raketen in Westdeutschland zu stationieren. Sie unterstützte Willy Brandt 1972 bei seinem Wahlkampf und trat 1984 gar selbst, von den Grünen vorgeschlagen, die Kandidatur auf das Amt als Bundespräsidentin an. Links und katholisch, das Recht auf Abtreibung, Frieden, Brandt, die Grünen, dazu eine Geschichte aus der Sicht einer kommunistischen Partisanin, sie konnte doch nichts mit dem Nationalsozialismus zu tun haben – oder?
Verstrickung
Noch von der Begeisterung getragen recherchierte ich weiter und stieß auf ihr Wirken in jenem dunklen Kapitel der Menschheitsgeschichte. Früh hatte sie mit „Junge Generation“ ein Lobgedicht auf Adolf Hitler verfasst, das wie auch andere ihrer Texte in der Zeitschrift „Herdfeuer“ erschien. 1933 brachte sie als junge Lehrerin ihren jüdischen Schuldirektor in Verruf, sicherte sich so einen Karrierevorteil. Nach dem Krieg gab sie sich nicht geläutert, sondern verschwieg das Geschehene schlicht, log in Biographien sogar bewusst. Luise Rinser war in die damalige Zeit nach heutigem Wissen allem Anschein nach ebenso verstrickt wie zig andere auch, aller späteren Weißwäsche und den Problemen mit dem Regime (beispielsweise die Inhaftierung 1944) zum Trotz.
Meine Euphorie war verflogen. Hätte ich diese Tatsachen vor dem Lesen gewusst, hätte ich die Novelle dann überhaupt gelesen? Ich erinnerte mich an eine ähnliche Situation zurück: Vor etwa zwei Jahren fiel mir in einem Antiquariat ein Buch mit dem Titel „Träume“ in die Hände, Günter Eich (1907-1972) dessen Autor. Es war damals dasselbe Spiel: Der Autor unbekannt, der Titel irgendwie verheißungsvoll, der Umschlag weckte mit wenigen Worten Interesse. Eich hatte unter dem Hakenkreuz verhältnismäßig viel geschrieben, veröffentlichte auch in der Zeitschrift „Das Innere Reich“, bekannt ist er aber vor allem durch seine Lyrik und Hörspiele nach dem Krieg. Es wird bei ihm vermutet, dass finanzielle Nöte ihn zur Fügung trieben, ein Eintrittsgesuch zur NSDAP vom 1. Mai 1933 ist belegt, die Annahme desselben jedoch nicht. Es wurde über Eichs damaliges Wirken kontrovers diskutiert, er selbst äußerte sich bereits 1947 mit Bezug auf die ihm nachgesagte Zugehörigkeit zur „Inneren Migration“: „Ich habe dem Nationalsozialismus keinen aktiven Widerstand entgegengesetzt. Jetzt so zu tun als ob, liegt mir nicht.“
Man kann Eich die Ehrlichkeit immerhin zugute heißen; über mangelnden Widerstand in der damaligen Zeit zu urteilen, halte ich angesichts meiner Geburt über 50 Jahre nach dem Ende dieser furchtbaren Epoche für vermessen und soll an dieser Stelle nicht thematisiert werden. Im Gegensatz dazu jedenfalls stehen die Äußerungen der beiden Genannten in Kunst und Gesellschaft der Bundesrepublik, respektive des deutschsprachigen Raums (Literatur und Sprache bleiben schließlich nicht an einer willkürlichen Landesgrenze stehen). Bei Rinser schlug ein umfassendes Engagement zu Buche, bei Eich muss man in das Geschriebene sehen: Eben jener Hörspiel-Zyklus „Träume“ gilt als Auftakt des Leitmotivs „Alles, was geschieht, geht dich an!“, der sein folgendes lyrisches Werk beherrschen sollte – ein prägnantes Bekenntnis zur Demokratie.
Zu erwähnen ist auch ein sehr prominentes Beispiel: Günter Grass (1927-2015). Der Literaturnobelpreisträger von 1999 verschwieg jahrzehntelang seine Mitgliedschaft bei der Waffen-SS ab 1944. Als 2006 bekannt wurde, was zuvor in keiner Biographie stand, gab es Diskussionen um den Schriftsteller. Er galt gut ein halbes Jahrhundert als eine moralische Instanz in der BRD, äußerte sich auch immer wieder kritisch, was wiederum zu Kontroversen führen konnte (so etwa 2012 die Veröffentlichung des Gedichts „Was gesagt werden muss“, in welchem er Stellung zur israelischen Verteidigungspolitik bezieht).
Geläuterte Menschen, geläuterte Werke?
Sind sie also geläutert, die Autorinnen und Autoren, die sich nach dem Nationalsozialismus auf die eine oder andere Art und Weise entsprechend positionierten? Kann man sie bedenkenlos lesen? Oder sollte man sich bei der Lektüre eher an Anderen aus diesem Zeitraum orientieren wie etwa Heinrich Böll (1917-1985), der unter dem NS-Regime zwangsläufig der Wehrmacht angehörte und in der BRD ebenfalls politisch engagiert war?
Die Antwort auf diese Fragen lässt sich nicht so eindeutig finden als es zunächst den Anschein hat. Mit einer demokratischen und damit eindeutig antifaschistischen Grundhaltung müsste es ja von vornherein ausgeschlossen sein, Autorinnen und Autoren zu lesen, die in das nationalsozialistische System auf welche Art auch immer verstrickt waren. Und ebenso sollte ein unkritisches, nicht hinterfragendes Lesen jedes beliebigen Texts ausgeschlossen sein; es ist stets fehl am Platz, will man nicht zum willigen Aufnahmemedium werden.
Man liest zweifellos lieber etwas von Persönlichkeiten, mit denen man sich in einem bestimmten Maße identifizieren kann. Es entsteht ein Gefühl der Verbundenheit, wenn man weiß, dass der Mensch, der die Zeilen geschrieben hat, ähnliche Ansichten und womöglich auch ähnliche Gefühle wie man selbst hatte und sein Leben gemeistert hat oder grandios gescheitert ist. Doch ist der Mensch das eine, sein Werk das andere. In der Schule lernen wir früh das lyrische Ich unabhängig vom Dichter oder der Dichterin zu betrachten.
Und wir lernen später das Gelesene in einen Kontext einzuordnen und diesen bei der Betrachtung zu berücksichtigen. Wir müssen uns auch bei den vorliegenden Fällen fragen, ob wir ihnen einen Lebens- und Gesinnungswandel vor dem Hintergrund der Zeit zugestehen. Wir müssen uns fragen, wieso die Verstrickung eingestanden oder aber verschwiegen wurde – aus Angst vor schwindendem Ansehen, aus Angst vor dem Sinken der Zahl an Lesenden? Kann man das Engagement, das eindeutig demokratische Positionieren gar als Sühne sehen? Wir müssen uns fragen, niemand sonst kann uns eine Antwort, niemand sonst eine Einschätzung geben.
Günter Eich hat mit seinen Hörspielen und lyrischen Werken Literaturgeschichte geschrieben, löste teilweise heftige Reaktionen in den 1950er Jahren aus. Sich damit zu beschäftigen, lohnt sich ebenso wie eine Lektüre von Luise Rinser, die mit „Geh fort wenn du kannst [sic!]“ eine nicht nur persönlich sehr bereichernde Novelle geschaffen hat. Egredere si potes. Gehen wir fort oder bleiben wir? Die Literatur und die Sprache bleiben und wandeln sich zugleich. Stellen wir die Werke zurück oder lesen wir sie? Die Wahl bleibt letztlich allen Lesenden selbst überlassen – sie sollten dabei den Mut haben, sich ihres eigenen Verstands zu bedienen.
Bilderquelle: pixabay.com
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