Das hier ist der erste Artikel des „ADHS-Aprils“, in welchem wir mehrere Artikel zum Thema ADHS veröffentlichen werden. Warum brauchen wir diese Artikelreihe über ADHS? Ganz einfach: Weil noch immer ein viel zu stereotypisiertes Bild von ADHS besteht, welches erstens zu viel Unverständnis für das Verhalten und Erleben von Betroffenen führt, und zweitens dazu, dass diese Neurodivergenz oft übersehen wird. Deshalb kämpfen viele Menschen ihr Leben lang unwissentlich damit und können keine Wege finden, mit sich selbst umzugehen. Das kann verheerende Folgen haben: Für Betroffene besteht ein doppelt so hohes Risiko, vorzeitig zu versterben – für spät diagnostizierte aber ein vierfach erhöhtes. (1)
Was also ist ADHS außerhalb der weit verbreiteten Vorstellung vom Zappelphilipp, dem unruhigen,
schwer erziehbaren, männlich gelesenem Kind? ADHS ist eine sogenannte neurologische Entwicklungsstörung, das heißt, dass die Entwicklung eines von ADHS betroffenen Gehirns von der eines neurotypischen abweicht. Diese Neurodivergenz ist also – bis auf wenige Ausnahmen durch spätere Verletzungen am Gehirn – von Kindesalter an vorhanden und meist genetisch bedingt, besteht aber bei etwa zwei drittel der Betroffenen bis ins Erwachsenenalter weiter, einige erhalten auch erst als Erwachsene eine Diagnose. Insgesamt sind rund 4-5% der Bevölkerung betroffen.
Der Name ADHS selbst steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Unterschieden wird bei der Diagnose zwischen dem vorwiegend unaufmerksamen, dem vorwiegend hyperaktivimpulsiven und dem kombinierten Subtyp. Die Bezeichnung ADHS wird oft aber als kritisch angesehen, da Betroffene eigentlich kein Aufmerksamkeits-Defizit haben (im Gegenteil, viele sind besonders reizoffen und nehmen ihre Umwelt sehr intensiv wahr), sondern Probleme damit, die Aufmerksamkeit zu steuern. Außerdem benennt sie lediglich zwei Aspekte – und zwar die, die der Umwelt am schnellsten negativ auffallen – und macht es leicht, die Komplexität dieser Neurodivergenz zu übersehen. Sowohl Aufmerksamkeitssteuerung und Inhibition, also Impulskontrolle, sind nur zwei der sogenannten Exekutivfunktionen, die bei ADHS alle beeinträchtigt sein können.
Deshalb spricht Dr. Russel Barkley, einer der führenden ADHSForschenden, statt von einer Aufmerksamkeitsstörung lieber von einer Störung der Exekutivfunktionen bzw. einer „performance disorder“. Exekutivfunktionen sind die kognitiven Funktionen, die uns dazu befähigen, geplant, kontrolliert und strukturiert zu handeln. Dazu gehören neben Aufmerksamkeitssteuerung und Reaktionshemmung z.B. auch das Setzen von Prioritäten, das Arbeitsgedächtnis – damit merken wir uns kurzzeitig Informationen, die wir für das Bewältigen einer Aufgabe benötigen –, emotionale Regulation, Zeitmanagement, mentale Flexibiliät – z.B. die Fähigkeit, relativ problemlos von einer Tätigkeit zur anderen zu wechseln – und Ziel- und Zukunftsorientiertheit.
Dies sind alles Fertigkeiten, die für neurotypische Menschen zwar weitestgehend selbstverständlich sind und ganz unbewusst eingesetzt werden, ADHSler*innen aber große Probleme bereiten können. Das liegt an messbaren Unterschieden im Gehirn: Bei Betroffenen wachsen bestimmte Bereiche im vorderen Teil des Gehirns, der vor allem für geplantes Handeln verantwortlich ist, langsamer und sind oft auch im Erwachsenenalter nicht vollständig entwickelt und auch nicht genug durchblutet.
Außerdem herrscht ein Mangel bestimmter Neurotransmitter, nämlich Noradrenalin und vor allem Dopamin, im synaptischen Spalt, der Verbindung zwischen zwei Nervenzellen. Diese Neurotransmitter sorgen normalerweise für Aufmerksamkeit, Antrieb, Motivation, Affektkontrolle – also quasi die Fähigkeit, unseren Gefühlen und Bedürfnissen nicht sofort nachzugeben, sondern kontrolliert und geduldig unser Handeln zu steuern – und vieles mehr. Hier setzen übrigens auch die gängigsten ADHS-Medikamente, nämlich Psychostimulantien wie z.B. Ritalin mit dem Wirkstoff Methylphenidat, an, indem sie die Dopamin-Konzentration im synaptischen Spalt erhöhen. Wegen dem konstanten Dopamin-Mangeln haben Menschen mit ADHS auch einen Hang dazu, Tätigkeiten nachzugehen, die zu einer Ausschüttung von Dopamin oder dem verwandten Noradrenalin führen, wie hoher Medienkonsum, viel und ungesund Essen, Konsum bestimmter Drogen etc.
Fehlende Stimulation und Langeweile hingegen werden oft als sehr qualvoll erlebt. Da ein ADHS-Gehirn sowieso die ganze Zeit nach mehr Dopamin schreit, sind Tätigkeiten, die nicht sofort mit Dopamin-Ausschüttung belohnt werden, für ADHSler*innen manchmal kaum machbar. Das sind vor allem Routineaufgaben oder als anstrengende erlebte Tätigkeiten.
Zusammenfassend haben Menschen mit ADHS also Probleme damit, ihr Handeln zu steuern, und zwar nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil sie aufgrund neurophysiologischer Besonderheiten nicht können. Das kann dann zum Beispiel so aussehen, dass wir Betroffenen mit einer scheinbar einfachen Aufgabe wie z.B. aufräumen gar nicht erst anfangen können und ewig prokrastinieren, wir für viele Aufgaben deutlich länger brauchen als andere, weil die Organisation uns überwältigt oder wir ständig vergessen, was wir eigentlich machen wollten, wir sehr impulsiv reagieren, wir gestresst sind, wenn wir plötzlich unsere Tätigkeit wechseln müssen, andauernd Termine vergessen, zu spät sind, Sachen verlegen, schnell unsere Stimmung ändern… Die Liste von Auswirkungen auf den Alltag ist endlos. Wir können desinteressiert wirken, wenn wir ganze Teile von Gesprächen oder Verabredungen vergessen, selbstzentriert und rücksichtslos, wenn wir dem Drang, unseren Bedürfnissen sofort nachzugeben, impulsiv zu reagieren, nicht widerstehen können, oder unwillig, wenn wir der Aufforderung etwas zu machen, nicht nachkommen können. Viele weitere Aspekte von ADHS sind noch kaum erforscht – es scheint z.B. auch zumindest einen statistischen Zusammenhang zu weiteren Phänomenen wie z.B. sehr starken negativen Emotionen bei empfundener Zurückweisung („rejection sensitivity dysphoria“) und einem verschobenem Tag- Nacht-Rhythmus zu geben.
ADHS ist also eine extrem komplexe Neurodivergenz, die viele Schwierigkeiten mit sich bringt. Das hat zur Folge, dass Menschen mit ADHS ihren Alltag oft nur schwer bestreiten können – Beziehungen gut aufrecht zu erhalten, die Anforderungen eines Jobs zu erfüllen, Finanzen zu organisieren, Projekte zu Ende zu bringen, all das können Herausforderungen sein. Langfristig bedeutet das, dass Betroffene öfter Arbeitsplätze verlieren, sich scheiden lassen, ungewollt schwanger werden, in Unfälle verwickelt sind, bankrott gehen, kriminell werden…
Auch das Risiko, an einer psychiatrischen Störung (wie Depressionen, einer Angst- oder Esstörung, Schlafstörung oder Suchterkrankung) zu leiden, steigt extrem. Eine Studie, die 166 Patient*innen einer allgemein-psychiatrischen Station einer Klinik in Schleswig-Holstein auf eine ADHS hin untersuchte, fand diese bei 59%.(2) Das Risiko, durch Suizid zu sterben, ist mehr als doppelt so hoch – Bei Frauen bis zu viermal so hoch(3), denn insbesondere weiblich sozialisierte Menschen haben ein sehr hohes Risiko, auch an einer dieser sogenannten komorbiden Störungen zu erkranken – Tragischerweise werden aber gerade weiblich gelesene Menschen oft nicht oder fehldiagnostiziert und lange falsch und erfolglos behandelt.
Deshalb ist es unglaublich wichtig, ADHS zu erkennen und zu lernen, damit umzugehen. Denn während außer Frage steht, dass ADHS, zumindest im gesellschaftlichen Kontext der kapitalistisch zentrierten Länder des globalen Nordens, verheerende Folgen für Betroffene haben kann, gibt es Hoffnung: All diese beängstigenden Zahlen, all diese erhöhten Risiken gehen mit der richtigen Behandlung oft auf ein fast durchschnittliches Niveau zurück.
Und wenn wir lernen können, die negativen Aspekte in den Griff zu bekommen und unser Leben ADHS-freundlich zu gestalten, dann können wir unsere Besonderheiten für uns nutzen: Denn Menschen mit ADHS sind großartig darin, mit neuen, spannenden Ideen zu arbeiten, sie selbst zu entwickeln, können sehr leidenschaftlich und fokussiert Tätigkeiten nachgehen, die sie interessieren, können frei und kreativ denken, intensiv fühlen und erleben.
Die Schriftstellerin und ADHS-Betroffene Angela Aguirre hat einmal geschrieben: „I am a beautiful explosion, but only for a moment – a shortlived spectacle, a pyrotechnic poet. I have always wished I were more fireplace than firework“ – „Ich bin eine wunderschöne Explosion, aber nur für einen Moment – ein kurzlebiges Spektakel, eine pyrotechnische Poetin. Ich habe mir immer gewünscht, ich wäre eine Feuerstelle anstelle eines Feuerwerks“.
Und ja, vielleicht sind wir nicht gemacht für langsame Beständigkeit, glitzern wunderschön in den Extremen, aber können keine stabilen Grund erschaffen, brennen schneller aus, sind ein bisschen zu unkoordiniert und extrem, vielleicht ist unsere Leidenschaft und Hingabe kurzlebiger oder sprunghafter – aber dafür so viel intensiver, so bunt, so vielfältig.
(1) The Lancet. „People with ADHD are twice as likely to die prematurely, often due to accidents.“ ScienceDaily. ScienceDaily, 25 February 2015. www.sciencedaily.com/releases/2015/02/150225205834.htm.
(2) Miesch, Deister (2019): Die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in der Erwachsenenpsychiatrie: Erfassung der ADHS-12-Monatsprävalenz, der Risikofaktoren und Komorbidität bei ADHS. Fortschr Neurol Psychiatr 2019
(3) Yeh, Westphal, Hu, Peterson, Williams, Prabhakar, Frank, Autio, Elsiss, Simon, Beck, Lynch, Rossom, Lu, Owen-Smith, Waitzfelder, Ahmedani (2019): Diagnosed Mental Health Conditions and Risk of Suicide Mortality. Psychiatr Serv. 2019
Kommentar hinterlassen