Blicke

Von Luna Buhmann


Alle Augen sind auf mich gerichtet, wenn ich das Haus verlasse. Die anderen Menschen sehen mich an, ihre Blicke bewerten mich. Sie ist zu groß, zu dick, zu klein, ihr Gang zu schnell, ihre Haare zu wild. Als ich den Zebrastreifen überquere, schaue ich nach unten. Ich will nicht in ihre Gesichter schauen, die mich ansehen und durch mich hindurchschauen. Die mein Innerstes sehen, wie klein und gebeugt ich bin, wie gerne ich mich hinter jemandem verstecken möchte. Ich stelle mir vor, dass mein Mantel mich bedeckt, mich umgibt und verhüllt, dass er mein Schutzschild ist vor der Welt und ihren Blicken. Ich spüre, wie die Blicke abprallen, wie die Watteschicht sie zurückgibt und die Menschen blendet, wie sie sich die Augen reiben, weil ein heller Blitz ihre Netzhaut trifft. Schnell bin ich vorbeigehuscht, kann mich verstecken unter meinem Schild, das mich abschirmt von der Welt. Dann sehe ich sie, ihr Lächeln und ihr Strahlen, kein kleines, weißes Licht, ein helles, brennendes Licht, das mich blendet. Sie trägt keinen Mantel, sie geht aufrecht, sie strahlt und ich kann nicht anders, als hinzusehen. Nicht, weil sie keinen Makel hat oder perfekt ist, nein, weil sie sich nicht versteckt. Trüge sie einen Mantel, würde ihr Strahlen erstickt werden, würde es unter der Schicht aus Federn und Polyester lodern und schließlich ihre Haut verletzen. Sie trägt das Strahlen nach außen und blickt nach vorn, manchmal sogar nach oben. Während ich sie beobachte, merke ich, wie mein Blick nach vorne gerichtet ist, wie ich die Blicke der Menschen vergesse und wie meine Haut immer wärmer wird. Kann ich es wagen, mich umzusehen, die Welt um mich herum wahrzunehmen?

Mein Blick beginnt, sich an Dingen festzuhalten, einem Kirschbaum, der gerade in voller Blüte steht. Einem Spatzen, der Krümel vom Asphalt pickt. Wie lange schon habe ich die Welt nicht mehr gesehen? Blicke ich doch stets nach unten und schütze mich davor, wahrgenommen zu werden. Dabei habe ich den Blick für die Welt verloren, für das Schöne, das mich umgibt. Meine Augen sind es nicht gewöhnt, das Tageslicht, die Strahlen der Sonne, die reflektiert und in tausend Farben gespalten werden. Ich will wieder mehr sehen, will meinen Blick nach vorne richten, manchmal sogar nach oben. Meine Haut wird wärmer, es beginnt zu schmerzen und ich weiß, ich muss den Mantel ablegen, es wird zu warm. Noch einen Moment lang verharre ich, bevor ich langsam den Reißverschluss öffne und spüre, wie kleine, gelbe Blitze hinausstrahlen. Nicht so hell wie bei ihr, klein und schüchtern, aber sie sind da, sie wollen hinaus und in tausend Farben gespalten werden. Ich drehe mich um und will sie ein letztes Mal ansehen, doch mein Blick findet sie nicht, schweift umher und kehrt wieder zurück. Zurück nach vorn, nicht nach unten. Ich gehe weiter und spüre die Wärme auf meiner Haut, ein Feuer, das lodert, gerade erst entflammt und doch stark genug, um meinen Blick auf die Welt zu lenken, die mich umgibt.

Beitragsbild: Foto von Martino Pietropoli auf Unsplash

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