Ich war acht Jahre alt, als ich die Diagnose bekam: ADHS. Den ersten Verdacht, dass ich ADHS hatte, äußerte mein Hausarzt, dieser empfahl meinen Eltern auch direkt die Medikation. Das fanden die beiden allerdings nicht so super. Sie wollten eine qualifizierte Aussage zu meinem neuen Special skill haben. Also begann die Suche nach einem Psychotherapeuten der auf ADHS spezialisiert war. Die ersten Monate nach dem geäußerten Anfangsverdacht waren dann davon geprägt das ich einige Tests machen musste. Der Psychotherapeut bestätigte dann schlussendlich die Diagnose des Hausarztes und die Reise – ein bewusstes Leben mit ADHS – begann so richtig.
Zusätzlich zur Medikation (Medikinet 30 mg) sollte ich auch eine Ergotherapie besuchen. Diese wurde flankiert von regelmäßigen Therapiesitzungen. Beide wirkten ineinander, das bedeutet durch ADHS induzierte Verhaltensauffälligkeiten sollten mithilfe der Ergotherapie behandelt werden, aber auch Beobachtungen aus der Ergotherapie die weiteren Therapiesitzungen beeinflussen. Eine meiner auffälligsten Verhaltensweisen war Aggressivität, welche vor allem durch Unterforderung ausgelöst wurde. Ebenfalls eine Rolle spielte eine geringe Frusttoleranz, wenn gewisse Dinge schlicht zu lange dauerten; es ist halt schwierig mit der Konzentration. So waren meine ersten 4 Lebensjahre vor allem davon geprägt, mich einmal im Monat mit einem Psychotherapeuten zu unterhalten und jede Woche in der Ergotherapie Zugang zu mir und meinem Umfeld zu finden. Langfristige Konzentration wurde zum Beispiel mit Töpfern oder dem Flechten von Körben trainiert. Aber auch Gesprächsrunden und betreutes Spielen mit anderen Kindern gehörten dazu. Ebenfalls ein Teil der Therapie war die Hausaufgabenbetreuung und die Vermittlung von Skills im Umgang mit frustrierenden Aufgaben. Dazu gehörten Stressbälle oder einfach mentale Übungen.
Neben dem ganzen therapeutischen Kladderadatsch gibts da natürlich noch das normale Leben. Meine Unaufmerksamkeit und das damit verbundene Stören des Unterrichts fielen auf einmal durch Medikation und Training im Unterricht weg. Die Noten wurden tatsächlich besser und auch meine Sozialisierungsfähigkeit steigerte sich erheblich. Gut durch die Früherkennung war, das ich von vielen Begleitsymptomen verschont blieb. Depression können da als Beispiel genannt werden. Natürlich sind damit nicht nur Depressionen ein Problem von Menschen, die entweder unerkannt mit ADHS durchs Leben gehen oder sich dieser besonderen Ausprägung erst im späteren Alter zeigen. Mangelnde Sozialisationsfähigkeit, Angespanntheit, aber auch schlicht Überforderung mit unübersichtlichen Situationen, die andere Menschen zu meistern scheinen, sind ein schweres Kreuz. Gerade bei jungen Menschen, die sich und ihren Platz in der Welt erst finden müssen, ist die Last sogar sehr schwer. Menschen mit ADHS haben es oft schwer, ihre eigenen Emotionen zu regulieren. Durch fehlende Konzentration schreiben viele Leute mit ADHS oft Texte, die keiner versteht. Lange Kettensätze, beschissene Rechtschreibung und mangelnde Struktur sind da als Beispiele zu nennen. Belastend wird es für Betroffene in der eigenen Wahrnehmung, wenn diese Fehler dazu führen, dass ihr direktes Umfeld sie schlicht für dumm hält. Auch das ‚Outzonen‘, also das komplette Loslösen aus einem Gespräch oder einer Situation führt oft dazu, dass Umstehende denken, man selbst sei ein wenig kauzig.
Weswegen ich auch sagen muss, dass gerade in dem Fall eine Medikation nicht das schlechteste ist. Durch „Humans little helper“ finden betroffene die Möglichkeit genauso wie ihr Umfeld an sozialen Situationen teilnehmen zu können. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Zusammenhänge zwischen unbehandeltem ADHS und Suizid gefunden wurden. Vor allem Frauen sind davon verstärkt betroffen. Wichtig für betroffene ist aber nicht die stumpfe Medikation, sondern auch ein stabiles elterliches Umfeld und vor allem auch eine Therapie. Wie bereits erwähnt, treten bei Menschen mit ADHS auch andere psychologische Krankheitsbilder auf, diese verringern nun auch nicht gerade das eben genannte Suizidrisiko. Ich glaube, in Fachkreisen heißt das Komorbidität.
Ein weiterer Vorteil war es, die Schwächen tatsächlich als Stärken verwenden zu können. Gerade in der heutigen, ausdifferenzierten Welt ist ein schnelles switchen zwischen unterschiedlichen Herausforderungen nicht unbedingt von Nachteil. Dies muss nur eben trainiert werden. Was einige ebenfalls als einen Vorteil – zumindest bei Medikation – betrachten, ist: verringertes Hungergefühl. Man frisst schlicht weniger. Entweder ist man zu fokussiert auf irgendwas und vergisst es; das rede ich mir zumindest gerne ein. Oder es liegt doch daran, dass man sich faktisch Pepp retardiert in den Rachen ballert. Ich möchte hier der Interpretation der Lesenden mal keine Grenzen setzen.
Nun bin ich 28 und lebe schon ziemlich lange therapiert mit ADHS und wurde gebeten, aus dem Schatten des Layouts herauszutreten und eben diesen Bericht zu schreiben. Wie ist es eigentlich, wenn man als Betroffener von ADHS funktional therapiert wurde? Ich würde sagen es ist spannend. Oftmals merke ich nämlich, dass ich bei vielen Dingen immer noch anders handle. Wo manche sehr intuitiv reagieren, bin ich oft noch damit beschäftigt, die relevanten von irrelevanten Informationen zu filtern, um dadurch so was wie eine Referenzebene zu schaffen. Auch auffällig ist, dass ich immer noch nicht wirklich klarkomme. Ich verstehe Menschen oft schlicht nicht. Mein Lösungsweg, das wird jetzt die Lesenden, die schon länger an der Uni Landau studieren, nicht wundern, war da immer die Flucht nach vorne. Dieser Verzweiflungsakt mag zwar oft wie Selbstbewusstsein wirken, ist aber eben dadurch nicht weniger ein Verzweiflungsakt. Gerade in der politischen Arbeit, aber auch in anderen Kontexten, kam mir meine oftmals mangelnde Fähigkeit, meine Emotionen im Zaum zu halten, teuer zu stehen. Dazu muss ich allerdings auch sagen, dass ich eben jene Emotionen auch in manchen Situationen nicht regulieren wollte. Es sollte ja nicht alles wie ein Schutzschild für die eigenen Verfehlungen verwendet werden.
Was mich eine ganze Zeit lang genervt hat, waren vor allem Gespräche mit anderen Leuten in Kontexten, bei denen auch Alkohol konsumiert wurde. Gerade an der Uni wurde sehr oft die Frage gestellt, ob die fragende Person nicht auch etwas von meinen Wundermittelchen bekommen könnte. Keule, hast du kein ADHS kannst du auch Pepp ziehen, ist genauso sinnlos für deine Konzentration und billiger. Ein ebenfalls oft aufkommendes Thema ist die spontane Selbstdiagnose mit ADHS. An sich nichts Schlimmes, wenn diese Kontestation der anderen Gesprächspartei nicht gleichzeitig mit einer absoluten Ablehnung einer fachlichen Abklärung der eben selbst gestellten Diagnose einhergehen würde. Mir ist es teilweise auch aufgefallen, dass erbrachte Leistungen von Eingeweihten der eigenen Diagnose direkt mit Ritalin und Co in Verbindung gebracht wurden – „kein Wunder, dass du das gut gemacht hast, du bist ja auch auf Drogen!“. Danke Karl, vielleicht hättest du vor der Klausur auch mal gelernt und dir nicht drei Tage vorher die Batterie abgeklemmt. Aber ja, die Disparität unserer Noten liegt an meinem Methylphenidathydrochlorid Konsum.
Ich muss auch zugeben, ich weiß nicht, was ich wirklich noch dazu schreiben soll. Ich denke, ich hatte es tatsächlich unendlich leicht mit meinem besonderen Talent, eben weil dieses so früh entdeckt wurde. Durch das Antrainieren verschiedener Handlungsmöglichkeiten habe ich mich bis jetzt ganz gut durchgeschlagen. Ich finde, es sollte einen deutlich stärkeren Fokus und eine deutlich stärkere Sensibilisierung von Kindern und Erwachsenen mit ADHS geben. Dazu gehört natürlich auch nicht, jedes aufgedrehte Kind direkt zu diagnostizieren. ADHS ist nichts Einfaches, es kann schwerwiegende Implikationen für Betroffene haben. Menschen mit ADHS gehen zwangsläufig einen schwierigen Weg, der sollte unterstützt werden. Gerade im Erwachsenenalter tun sich Menschen damit schwer, offen zu kommunizieren, dass sie an ADHS leiden oder suchen sich Hilfe. Assoziiert wird ADHS schließlich immer noch als Kinderkrankheit und vor allem als psychische Krankheit. In unserer Gesellschaft werden psychische Krankheiten immer noch stark tabuisiert, auch wenn ein Umdenken erkennbar ist. Also fragt nach drei Bier einfach mal nicht nach, ob ihr Tabletten bekommt und versucht, die medikamentöse Angleichung der Leistungsfähigkeit nicht zu heroisieren. Es ist eine Angleichung, keine Überhöhung. Mit den Pillchen funktionieren Menschen mit ADHS nur mehr wie ihr.
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