Es ist halb eins, abends,
es ist dunkel, die Straßen sind leer
und nur sie allein läuft auf dem Gehweg.
Die Straßenlaternen beleuchten den Asphalt nur spärlich,
der Mond wirft milchig-trübes Licht auf die Dächer der Stadt
und die Wolken verdecken den Himmel.
Es ist kälter geworden,
sie hat ihre Jacke zuhause gelassen,
und strebt schnellen Schrittes ihre Wohnung an.
Während nur nachtaktive Nager ihre Zeugen sind
und sie so in Gedanken versinkt,
da hört sie ein Auto.
Es fährt ihre Straße entlang,
scheint sie zu sehen
und verlangsamt.
Für 5,6,7,8 sich ewig ziehende Sekunden
rollen die Reifen neben ihr her,
sie sieht zur Seite
und in die Augen des Fahrers.
Er blickt sie an, er starrt sie nieder,
er frisst sie mit Haut und Haaren
und beschleunigt wieder.
Es läuft ihr kalt den Rücken herunter.
Sie geht weiter,
überquert den Zebrastreifen
als ihre Augen über das selbe Auto gleiten.
Sie versucht zu denken,
dass er sich nur verfahren hat
und deshalb lenken musste
und ignoriert den Schauer,
der ihr über den Rücken huscht
und geht weiter.
Sie geht an dem Park vorbei,
der als „Drogen und Vergewaltiger-Park“ bekannt ist,
nimmt so viel Abstand wie möglich
und zählt die letzten Meter.
Das letzte Mal die Straße überqueren.
Fast daheim.
Da sieht sie wie ein Auto vor ihr hält,
sich längs an die Straße stellt,
in der sie wohnt.
Es ist nicht irgendein Auto,
es ist das von eben.
Ihre Angst steigert sich,
sie tippt die 110
auf den Display ihres Handys.
Signale feuern,
die Haare stehen ihr zu Berge,
sie stellt sich auf einen Kampf ein
und ballt die Hände zu Fäusten.
Sie geht schneller,
noch schneller als zuvor,
schaut nicht zur Seite,
sondern stur
gerade aus.
Sie kramt den Schlüssel heraus,
schließt die Haustür auf
und im selben Moment hinter sich.
Sie war selten so froh,
zuhause gewesen zu sein.
Ein Schleier hängt über ihren Augen,
ihre Gedanken fahren Achterbahn
und sie kann es kaum glauben,
dass sie gerade wieder cat calling erfahren hat.
****
Sie ist mit ihren Freundinnen aus,
sie wollten tanzen gehen,
einfach nur raus aus der Bib,
mal wieder was anderes außer Lehrbücher sehen
und das Leben genießen,
sich ablenken von Pflichten und Prüfungen,
von Hausarbeiten und Referaten,
von den elenden Studiumsinhalten.
Sie begrüßt ihre Gruppe
und geht an die Bar,
holt sich was zu trinken,
ein Typ kommt zu nah,
sie denkt nicht drüber nach
und geht zurück,
auf die Tanzfläche.
Sie wollen tanzen bis die Füße bluten,
wollen einfach nur nach Lebendigkeit suchen
und mal nicht an Alltag denken.
Sie gerät in eine Gruppe von Männern
und tanzt mit ihnen,
es ist alles cool,
es macht alles Spaß,
alle verstehen sich gut
und es passiert nichts, außer dass
jetzt einer zu nah kommt.
Der Typ von der Bar,
der Typ, der sie heut morgen beim Sport so seltsam angestarrt hat,
der kommt auf sie zu
und zieht sie an sich ran.
Er fragt nicht,
sondern lässt körperliche Überlegenheit spielen.
Ihr ist die Sache äußerst unangenehm,
doch sie macht mit und blickt zur Seite,
bloß kein Augenkontakt
um seine Zunge in ihrem Hals zu vermeiden.
Was soll er schon machen?
Er dreht sie um als wär sie ein Ding,
kein Lebewesen
und fängt an seinen Schritt an ihrem Hintern zu reiben,
hält sie fest, sodass sie ihm dabei nicht entgleiten kann.
Sie wird panisch,
das ist ihr zu viel,
sie wollte nur Spaß, kein Vorspiel
auf der Tanzfläche
und schon gar nicht mit ihm.
Ein Freund einer Freundin merkt ihren Blick
und zieht sie von dem Kerl zurück.
Ein Schleier hängt über ihren Augen,
ihre Gedanken fahren Achterbahn
und sie kann es kaum glauben,
dass sie gerade wieder cat calling erfahren hat.
****
Sie ist 15 und mit ihrer Freundin bei einem Fest in ihrem Dorf.
Sie haben sich lang nicht gesehen
und tauschen sich aus,
sie sitzen am Tisch
und es sieht so aus
als würden sie die Jungs am anderen Tisch kennen.
Jedenfalls ein paar,
einer aus der Grundschule,
zwei aus dem Kindergarten.
Es ist witzig,
alle unterhalten sich,
zwei Jungs stehen auf
und gehen zusammen zur Toilette.
Sie wundert sich,
Jungs gehen nie gemeinsam,
aber was will sie schon wissen,
sie hat von solchen Dingen keine Ahnung
und verdrängt den Gedanken, den sie hat.
Die Beiden kommen wieder
und setzen sich anders hin,
der eine neben ihre Freundin,
der andere ihr gegenüber und lächelt sie an.
Sie lächelt zurück.
Sie ist schüchtern, doch irgendwie glücklich,
und streckt ihre Beine aus.
Ohne Grund, er sieht das anders
und fängt an sie zu streicheln,
erst an den Schienbeinen,
dann hoch zu den Knien,
immer weiter bis er nicht mehr weiter kommt.
Sie steht auf und geht zur Toilette, kehrt zurück
und wundert sich, dass er jetzt neben ihr sitzt.
Sie verdrängt das ungute Gefühl,
das sie hat,
sie hört dem Gespräch zu und hat ihren Spaß,
sie merkt wie er sie umfasst.
Wie er seinen Arm um ihre Hüfte legt.
Sie schluckt.
Sie verdrängt die Gedanken, die sie hegt.
Mit der anderen Hand fängt er wieder an sie zu streicheln,
erst weiter unten am Bein,
dann lässt er die Hand immer weiter nach oben gleiten.
Ihr Herz schlägt schneller,
ihr ist das unangenehm,
sie will ihn nicht blamieren
und lässt es über sich ergehen,
„Er hat nicht mal gefragt“,
sie verdrängt den Gedanken
und merkt, dass er seine Hand durch ihre Bluse schiebt.
„Sieht niemand, was er vorhat? Vor allen Anderen?“
Sie schiebt seine Hand weg,
doch das stört ihn nicht,
er versucht es erneut
und reagiert frustriert,
als sie ihn wieder wegschiebt.
Irgendwann geht sie nachhause,
ein Schleier hängt über ihren Augen,
ihre Gedanken fahren Achterbahn
und sie kann es kaum glauben,
dass sie gerade wieder cat calling erfahren hat.
****
Sie macht ihr Praktikum in der Psychiatrie
und unterhält sich mit Patientinnen.
Sie hört Geschichten von cat calling,
von Übergriffen,
von Erfahrungen,
die das Leben der Dialogpartnerinnen prägten
und zum Großteil Ursache der Erkrankung sind.
Sie tauschen sich darüber aus,
wer wie was erlebte
und wer sich wie dagegen wehrte.
Im Konsens gibt jede zu, nicht zu wissen,
wie sie darauf zu reagieren hat.
Im Konsens sind sich alle schlüssig,
dass jede Frau solche Ereignisse in ihrem Leben zu verzeichnen hat.
Im Konsens wissen alle,
dass es falsch ist und sich nicht gehört.
Im Konsens sind alle empört
und traurig
und wütend
und frustriert.
Im Konsens werden alle laut
und fühlen sich gehört.
Im Konsens fühlen sie sich stark
und alle überkommt ein Gefühl der Macht
über den eigenen Körper.
An dem Tag geht sie nachhause,
es ist Winter,
weshalb es nach der Arbeit schon zu dämmern beginnt.
Sie hört den Song ihrer Lieblingsband,
der ihr Selbstbewusstsein bestärkt.
Als sie in Gedanken versinkt,
da fährt jemand auf dem Fahrrad vorbei,
er sieht sie, von oben bis unten,
lässt seine Augen das,
was unter dem Parka ist, erkunden,
pfeift und fährt weiter.
Über ihren Augen liegt ein Schleier,
ihre Gedanken fahren Achterbahn
und sie kann es kaum glauben, dass sie gerade wieder cat calling erfahren
und trotz der Gespräche nichts getan hat.
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