Plötzlich Märchen – Teil 4

Willkommen zu den Märchen-März-Montagen!

Kapitel 7: Ein unerwartetes Geschenk

Henry und Greta hatten gerade die ersten Wohnhäuser erreicht, da erschien ein graues Männlein auf ihrem Weg und klagte frei heraus über seinen großen Hunger. „Wir haben auch schon das Brot zerkrümelt, also was soll’s,“ sagten die Kinder, wunderten sich kaum über die seltsame Gestalt und teilten das restliche Essen aus dem Körbchen mit ihr.

Als es aber gegessen und getrunken hatte, sprach das Männlein: „Weil ihr solch gute Herzen habt, will ich euch ein Glück mit auf den Weg geben. Geht nur und fällt die Linde, die dort am Felde steht, unter ihren Wurzeln werdet ihr etwas finden.“ Und mit diesen Worten machte es sich davon.

Nun war den Kindern eigentlich einerlei, was sie unter dem Baum finden könnten, sie waren sich sicher, es nicht zu brauchen. Dennoch vergingen die Minuten und sie rührten sich nicht vom Fleck, ihre Neugier ließ sie eine Kiste voll Gold vermuten oder einen Trank der langes Leben gibt. Diese Bilder wurden mit der Zeit immer wirklicher, bis sie schließlich nicht mehr an sich halten konnten. Sie rannten hinüber zu der alten Linde und besahen sie sich von allen Seiten.

„Mal ganz davon abgesehen, dass wir keine Axt haben, können wir hier nicht einfach einen Baum fällen“, sagte Henry resigniert.

„Aber Herr Carrabas!“, rief da auf einmal der gestiefelte Kater, der um den Baum strich. „Für solcherlei Angelegenheiten habt Ihr doch mich.“ Und er begann, mit seinen Pfoten neben der Linde zu graben, bis er ihre Wurzeln erreicht hatte.

Was nun zum Vorschein kam, als Henry unter die Wurzeln fasste, erstaunte den Jungen sehr: In seinen Händen saß eine goldene Gans, die obendrein quicklebendig war.

„Ach so!“, rief da Greta aus. „Ich wusste gar nicht mehr, dass die goldene Gans unter einem Baum auftaucht. Aber was mit den Leuten geschieht, die eine goldene Feder stehlen möchten, weiß ich noch ganz genau.“ 

Vergnügt über den kostbaren Fund, der nun in ihrem Korb saß, liefen die Kinder in das Dorf hinein und kümmerten sich wenig darum, dass ihre tierischen Begleiter mit ihren sonderbaren Eigenschaften dem einen oder anderen ins Auge fallen könnten.

Kapitel 8: Ende gut, alles gut

Die Geschwister liefen nun Straße um Straße auf vertrauten Wegen, doch es begegnete ihnen kein Mensch, das war schon etwas sonderbar. Als sie schließlich am Haus ihrer Großmutter klopften, ertönte eine zittrige, raue Stimme:

„Mein Rotkäppchen, bist du es? Komm nur herein!“

„So hat sie mich noch nie genannt,“ flüsterte Henry voller Grauen und nahm seine rote Kappe in die Hände. „Das kommt doch aus dem Märchen mit dem bösen Wolf?“

Greta nickte. „Wir sollten schnell zum Jäger, er wohnt doch hier irgendwo!“

„Einen Moment noch.“ Henry schob die Tür einen Spalt breit auf, linste in die dunkle Stube und fragte:

„Oma, warum hast du denn so große Ohren?“

„Dass ich dich besser hören kann!“, erwiderte die Stimme.

Schnell schloss der Junge erneut die Tür. „Was sollen wir dem Jäger denn sagen?“, fragte er ver-zweifelt. „Wölfe sind nicht gefährlich, sprechen nicht und fressen auch keinen am Stück!“

„Geht nur hinein,“ meldete sich da der gestiefelte Kater. „Ich werde alles zum Guten wenden.“

Greta sah das Tier verwundert an. „Du kannst vielleicht einen Zauberer überlisten, aber einen Wolf? Er wird sich nicht für dich in eine Maus verwandeln…“

„Egal jetzt!“ Henry schob die Tür wieder auf. „Denk an Oma! Wir haben keine Zeit zu verlieren.“

Im Esszimmer der Großmutter waren alle Gardinen zugezogen und im Schaukelstuhl saß eine große Gestalt. Auch im Zwielicht und in eine Decke gehüllt, konnte sie ihre Muskeln und das graue Fell nicht verbergen. Die Kinder hielten sich nahe bei der Tür und traten unruhig von einem Bein aufs andere.

„Möchtet ihr eure Großmutter nicht umarmen?“, erklang die Stimme des Wolfes.

„Wir, also, …“, stotterte Henry. Der gestiefelte Kater stieß Greta an.

„Aber Oma, warum hast du so große Augen?“, fragte das Mädchen.

„Dass ich euch besser sehen kann!“

„Und warum hast du so große Hände?“

„Dass ich euch besser packen kann!“

Greta schluckte. Der Kater bedeutete ihr, fortzufahren.

„Und sag mal, warum hast du so ein großes Maul?“, fragte sie.

„Dass ich euch besser fressen kann!“, rief der Wolf.

Doch wie er auf die Kinder zuspringen wollte, die sich vor Angst nicht rührten, trat ihm der Kater entgegen und lachte lauthals.

„Diese beiden willst du verschlingen, mit Haut und Haar?“, spottete er. „Nein, Graukopf, du bist alt und fett und könntest nicht einmal die goldene Gans hier schlucken!“

In seiner Wut riss der Wolf die goldene Gans aus dem Korb, um sie in seinem Rachen zu versenken, doch der Zauber des grauen Männleins zeigte Wirkung: Dort, wo die goldenen Federn Klauen und Schnauze des Untiers berührten, blieben sie haften und verklebten das weit aufgerissene Maul. Alles Jaulen und Toben war denn auch ohne Erfolg, und schließlich lag der Wolf keuchend am Boden.

Greta beugte sich mutig hinab sprach ganz deutlich: „Oma, Oma, bist du hier?“

„Greta, Schatz, ich bin im Schlafzimmer,“ ertönte da die Stimme der Großmutter. „Manchmal ist es wirklich zum Heulen: Ich habe mich eingeschlossen und weiß gar nicht, wie das passieren konnte.“

Da lachten die Kinder und stießen den geknebelten Wolf zur Tür hinaus.

„Mach dich fort, in den Wald, wo du kläglich verhungern kannst!“, rief der gestiefelte Kater.

Wie die Gefahr gebannt und die Großmutter befreit war, setzten sie sich allesamt um die große Tafel, die alte Frau tischte heiße Schokolade auf und Henry und Greta erzählten von ihren Abenteuern.

„Was habt ihr für eine Fantasie!“, rief die Großmutter ein ums andre Mal und lachte herzlich, da sie doch glaubte, dass die Kinder nicht aus bösem Willen mit leerem Korb zu ihr gelangt waren.

Die Zeit im Hause der Großmutter verging, wie das in fröhlichen Stunden immer der Fall ist, schnell wie ein Wimpernschlag und so kehrten die Kinder alsbald auf wohlbekannten Wegen zum Vater zurück. Dieser empfing sie freudig und fand, dass alles in bester Ordnung war: die Kinder erschöpft und vergnügt zugleich, der Korb geleert, und – nun ja – dann gab es da noch den Kater, den er mit den Worten „Was bist denn du für einer?“, begrüßte.

Der Kater aber antwortete mit seinem feinsten „Miau“ und wenn er sich weiter so klug verhielt, lebt er wohl bis heute bei den Geschwistern Henry und Greta.

Ende

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