Eure Hand an meinem Hintern

TRIGGERWARNUNG: Dieser Text enthält sehr graphische Beschreibungen von sexualisierter Gewalt, um dahinterliegende Mechanismen aufzuzeigen. Wenn es euch damit nicht gut geht, dann überlegt euch, ob ihr diesen Text lesen wollt.

„Speak your mind, even if your voice shakes”
– Sprich aus, was du denkst, selbst, wenn deine Stimme zittert.
Dieser Aufforderung der Aktivistin Maggie Kuhn will ich heute nachgehen.
Ich will über die Dinge sprechen, die meine Stimme immer wieder zum Zittern bringen, über die ich eigentlich lieber nicht reden will: Ich will sprechen von meiner Scham als FINTA in einer patriarchalen Gesellschaft.
Scham ist eine mächtige Waffe der Unterdrückung, vielleicht insbesondere der patriarchalen, und nur wenn wir sie benennen und darüber sprechen, können wir uns empowern, befreien und vollen Widerstand leisten.


Wir wissen alle, was passiert, wenn wir uns schämen: Wir wollen vor Scham im Erdboden versinken, wir schämen uns in Grund und Boden. Wir wenden den Blick nach unten und machen uns klein. Wir meinen, die Ursache der Scham in uns selbst zu erkennen, in unseren Verfehlungen, und setzen alles daran, diese im Geheimen zu halten.
Deshalb funktioniert Scham so wunderbar als Waffe der Unterdrückung jeglicher Art.
Scham führt zum Verstecken, zum Schweigen, zum Stillhalten.
Und systematische Scham in marginalisierten Gruppen führt zu Spaltung, denn sobald sie einmal internalisiert ist, fangen wir an, uns gegenseitig und uns selbst zu beschämen und zu stigmatisieren. Sie will uns unsere Fähigkeit zum Widerstand nehmen.


Jeder Mensch hat einen Raum, der nur ihm gehört. Meine Gefühle, mein Körper, meine
Entscheidungen, wie ich mich kleide, wen ich liebe, was ich von mir teile, all das gehört nur mir. Aber das Patriarchat nutzt die Scham, um in diesen Raum einzudringen, unser Sein zu formen, und versucht so, sich unseres Innersten zu bemächtigen. Ich glaube, wir FINTA kennen diese Scham alle auf die ein oder andere Weise. Deshalb will ich euch erzählen, wie sie zum Beispiel mich als Cis-Frau mein Leben lang begleitet hat. Denn nur so können wir das Stigma brechen, uns vom Schweigen und Verstecken befreien und vielleicht, irgendwann, auch von der Scham selbst.


Ich habe mich geschämt mit zwölf Jahren, als mir gesagt wurde, ich solle doch bitte anfangen, einen BH zu tragen, denn so langsam könne mann meine Brüste sehen. Also habe ich einen angezogen.

Ich habe mich geschämt als Teenagerin, als mir immer mehr Menschen sagen, „Mädchen in deinem Alter sind so oberflächlich, ihr lauft die ganze Zeit nur gackernd in der Stadt rum und verschleudert Geld für Schminke“. Also habe ich gesagt, „Ich bin nicht wie die anderen Mädchen“, habe meine Solidarität, Teile meiner Identität aufgegeben, um mich ein bisschen weniger schämen zu müssen.

Ich habe mich geschämt, immer, wenn ich wütend war, und mir gesagt wurde, ich wäre hysterisch, irrational, hätte wohl gerade meine Tage. Also habe ich angefangen, meine Wut zu verstecken.

Ich habe mich dafür geschämt, wenn ich mal keinen Bock mehr hatte, emotionale Arbeit zu leisten, weil Frauen doch so fürsorglich und aufopferungsvoll sind und wenn nicht wohl einfach schlechte Menschen. Also habe ich mich selbst und meine Bedürfnisse ignoriert.

Ich habe mich geschämt, als ich im Nachtzug vor meinem Abteil stehe und die Tür klemmt, ein hilfsbereiter Gentleman sich hinter mich stellt, mir mit einer Hand die Tür öffnet und mit der anderen ein bisschen Spaß an meinem Hintern hat. Denn was soll ich auch erwarten, wenn ich naiv genug bin, nachts alleine Zug zu fahren? Also habe ich nichts gesagt.

Ich habe mich geschämt als ich zum ersten Mal mit einem Mann rummache, und er mir sagt: „Wenn du willst, dann zeig ich dir, wie du kommen kannst“, und ich würde am liebsten schreien, FICK DICH, das ist mein Körper, wie kannst du bloß glauben, du kennst ihn besser als ich, aber Frauen masturbieren ja nicht, denn Frauen empfinden ja keine Lust und da unten fasst frau sich sowieso nicht an. Also habe ich brav genickt und danke gesagt.

Ich habe mich geschämt, als ich mal abends mit einem Typen abhänge, nur freundschaftlich, bis er mich plötzlich küsst und ich versuche mich wegzudrehen und er nicht aufhört.
Ich habe mich geschämt, als ich ihm sage, dass ich das nicht will, dass ich ihn zwar mag, aber nicht so, und ich verliebt bin in einen anderen Menschen, er mich dann mustert und sagt: „Aber denkst du echt, du hast bei dem eine Chance?“.
Ich habe mich geschämt, als seine Hand kurz darauf auf meiner Brust liegt, ich sie wegdrücke und sie zurück kommt und ich sie wegdrücke und sie zurück kommt und ich sie wegdrücke und sie immer und immer wieder zurück kommt.
Als die selbe Hand plötzlich nach unten wandert und ich nein sage, nein, nein, nein, nein, nein… aber meine Worte haben keine Macht – Ich habe keine Macht.
Als er dann in mir drin ist und ich nur noch ganz leise den Kopf schüttle, weil die vier Buchstaben N, E und I und N nicht mehr mehr sind als das, kein Wort mehr, keine Grenze mehr, nur vier merkwürdig klingende Laute, aus denen jegliche Bedeutung herausgesifft ist.
Ich schäme mich, als er ein paar Tage später sagt „Tut mir leid, das war ein bisschen viel, oder?“ und ich sage „Ist schon ok, wenn’s halt nur nicht wieder vorkommt“, denn klar, es ist schon ok, die Männlichkeit bemächtigt sich meiner schließlich schon mein ganzes Leben lang, formt mich nach ihren Vorstellungen, also ist es wohl ok, wenn noch ein weiterer Mann sich meiner bemächtigt, aus mir das macht, was er will.
Und ich schäme mich, als er kurz darauf von vorne anfängt.


Genau diese Scham ist die perfide Waffe, die das Patriarchat andauernd dafür nutzt, sich unserer zu bemächtigen. Diese verdammte Scham sagt mir, welche Gefühle mir zustehen und welche nicht, und diese Gefühle sind immer nur die Angst und die Scham selbst, manchmal die Trauer, aber niemals die Wut; diese Scham sagt mir, was für Kleidung ich tragen darf oder muss, welche Bedürfnisse ich haben und wann ich mich überhaupt nach ihnen fragen darf, wie ich aussehen darf, wie ich lieben darf, was ich denken darf – kurz gesagt:
Das Patriarchat benutzt diese Scham konstant dafür, mein Innerstes zu beschneiden, in meinen Raum einzudringen, und die wortwörtliche Herrschaft darüber zu ergreifen. Was anfängt beim „Rasier‘ mal deine Beine“ endet in der Vergewaltigung und im Femizid, in der absoluten Bemächtigung des gesamten Seins.
Es sind nicht nur Cis-Männer, die vergewaltigen, und auch Cis-Männer werden vergewaltigt und haben dann mit einer eigenen Art der Stigmatisierung zu kämpfen. Es ist wichtig, dies nicht zu verleugnen, und auch diese Stigmatisierung ist Teil des Patriarchats.
Wenn wir uns aber fragen, wie die Vergewaltigung und auch die femizidale Ermordung durch Cis-Männer solch ein strukturelles und kulturell genährtes Phänomen sein kann, dann ist eine mögliche Antwort darauf, dass es in dieser Gesellschaft Normalzustand ist, dass die Männlichkeit in den persönlichsten Raum von FINTA eindringt und die Macht darüber ergreifen möchte.


Vielleicht fragt ihr euch, warum ich euch diesen ganzen Mist erzähle, ob ich nichts Besseres zu tun habe, als mit einer Gruppe fremder Menschen mein Trauma und meine Scham zu teilen.
Und nein, ich habe nichts Besseres zu tun, nichts Wichtigeres.
Ich will von meiner Scham sprechen, weil ich mir sicher bin, dass ihr einiges davon teilt. Und ich will von euch, anderen FINTA, und überhaupt von allen unterdrückten Menschen von ihrer Scham hören.
Neulich hat eine Freundin zu mir gesagt: „Ich schäme mich den ganzen Tag, jeden Tag, und ich habe es nie bemerkt“.
Lasst uns zusammen den Mut finden, unsere Scham zu bemerken. Lasst sie uns entdecken und erforschen, denn sie zeigt uns, wo wir Unterdrückung erfahren.
Lasst uns über Scham reden, um sie sichtbar zu machen. Denn nur wenn wir merken, wo wir aus
Scham heraus handeln, können wir uns bewusst dagegen entscheiden, befreit handeln und unsere Freiheit und Macht zurückholen. Wir können unseren Raum komplett ausfüllen und lernen, dass alles, was dort existiert, existieren darf und voll und ganz nur uns gehört.
Ich weiß, dass Reden nicht frei macht von gesetzlicher und wirtschaftlicher Diskriminierung, die ich als Weiße Cis-Frau sowieso nur selten erfahre. Aber Reden kann uns die Kraft geben, dagegen Widerstand zu leisten.
Lasst uns unsere Wut zurückfordern. Lasst uns laut sein, anstößig und unverschämt.
Scham, Schweigen und Spaltung greifen tief ineinander, sind Zahnräder in einem viel zu gut laufenden System. Aber wenn wir auch nur eines davon zerschlagen, bricht das ganze System zusammen.
Ich schäme mich noch immer, aber ich schweige nicht mehr.

„Speak your mind, even if your voice shakes“
– Sprich aus, was du denkst, selbst, wenn deine Stimme zittert.
Ich sage mir jetzt:
Sprich aus, was du fühlst, gerade dann, wenn deine Stimme dabei zittert.

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