Das Recht auf Unglück

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Jedes Individuum der Gattung Mensch besitzt ein Recht auf Unglück und persönliches Leid. Für die Dauer von achtundvierzig Stunden zumindest. So viel Zeit räumt einem der Paragraph 616 aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch im Falle des Todes einer nahestehenden blutsverwandten Bezugsperson (oder weniger diffus: eines Elternteils) ein. Benannte Situationen erfordern gesetzlich keine Empathie oder Rücksichtnahme, sondern lediglich Professionalität des bzw. der Betroffenen. Betitelt wird der Anlass für diese immense Generosität als „Vorübergehende Verhinderung“. Die Website www.arbeitsrecht.org offeriert eine hübsche Übersicht. Arbeitnehmer*inn*en genießen das Recht auf vergüteten Sonderurlaub beim Todesfall Angehöriger (Lebenspartner, Lebensgefährten, Ehepartner: 3 Tage; Eltern, Kinder, Geschwister, Schwiegereltern, Stief- oder Pflegekinder des selben Haushalts: 2 Tage; Eltern, Kinder, Geschwister, Schwiegereltern, Stief- oder Pflegekinder eines separaten Haushalts: 1 Tag) und im Falle einer Eheschließung (2 Tage), Niederkunft der Partnerin (1 Tag), Silberhochzeit (1 Tag) oder eines Umzugs (1 Tag, nicht häufiger als einmal jährlich). In einer Leistungsgesellschaft besteht kein Grund zur Gefühlsduselei. Mensch hat schließlich zu funktionieren, sonst bricht das System in sich zusammen. Nicht auszudenken.

Diese Gesetzgebung bedarf keines Kommentars. Möglicherweise stellt sie aus reflexiver Perspektive kaum etwas anderes dar als eine Konsequenz der zu Hauf angewandten Relativierung jeglichen Leids.
Negativ konnotierte Nebenwirkungen des Lebens – insbesondere schmerzhafte Emotionen und leidige Schicksalsschläge – werden allgemein mit Vorliebe gegeneinander aufgewogen, in ihrer Aussagekraft dezimiert, übertrumpft oder beschönigt. Der suggerierte Trost ufert in eine verzogene, jeglicher Ernstnahme entbehrende Verharmlosung aus, oder aber das konträre Gegenstück. In jedem Fall fällt es schwer, Leidvolles mit einer gewissen Contenance hinzunehmen. Die Tragik des Lebens ist sowohl interessant und gehaltvoll als auch schlichtweg unangenehm. So besteht die Tendenz, sich kollektiv einen abwehrenden Habitus anzueignen. Ein nachvollziehbarer Schutzmechanismus. Und dennoch eine Tragödie in sich.

Die Konditionierung beginnt bereits im Kleinkindalter, wenn die Erziehungsbevollmächtigten sich krampfhaft bemühen, ihrem Schützling zu vermitteln, dass Brokkoli eine wundervolle Angelegenheit sei, denn jedes der zu bemitleidenden Kinder in Afrika würde sich schließlich unermesslich darüber freuen. Unter Anderem geschieht das in der Absicht, ein Bewusstsein für den vorhandenen Luxus und die dahingehende Ignoranz zu schaffen. Definitiv keine verwerfliche Idee. Aber das Jammern auf hohem Niveau ist nicht zwangsläufig unangemessen, unberechtigt oder grundlegend das Symptom einer verzogenen Perspektive auf die Welt. Menschen leben in der Realität, die sie als solche erkennen. In diesem (ihrem) Mikrokosmos empfinden sie, und jede Empfindung erfreut sich einer Legitimation, eines justifizierten Sinns. Die Impression von Ungerechtigkeit und Lamento ebnet den Weg für elegische Ausschweifungen ebenso wie für innerliche Progression.

Eine nicht irrelevante Komponente der Problematik besteht darin, dass Unglück willkürlich, desillusionierend und in erster Linie demotivierend in Erscheinung treten kann. Nicht bloß die Entität Mensch ist peinigend betroffen, auch diverse Kompetenzen werden in Mitleidenschaft gezogen. Beispielsweise die allzu primär und essentiell gehandelte Leistungstauglichkeit. Wir werden sehr viel öfter auf unsere Arbeitsfähigkeit reduziert als wir annehmen. Krankenkassen sind berechtigt, Psychotherapiegelder zu streichen, sollte das sich in Behandlung befindende „Subjekt“ für nicht potenziell arbeitsfähig erklärt werden.
Vielleicht besteht ein Kontext zwischen dem Fakt, dass wir uns nicht erlauben (wollen), unglücklich zu sein, und der Tatsache, dass wir es häufig trotzdem sind. Wie sollten wir auch, schließlich möchte es beim Drahtseilakt des Lebens niemand provozieren, ein Brett vors Gesicht geknallt zu bekommen. Der Wunsch nach Hilfe, Nähe oder Trost wird gemeinhin noch immer als Schwäche fehlinterpretiert. Der Terminus „Bedürftigkeit“ hinterlässt einen bitteren Beigeschmack, obwohl wir alle bedürfen, permanent. Ob es dem allzu eitlen Ego nun gefällt oder nicht.
Dass Leid nicht erstrebenswert ist steht außer Frage. Dennoch bleibt fragwürdig, weshalb es dem Menschen so fürchterlich schwerfällt, sich seines Jammers bewusst zu sein, ohne vollständig darin unterzugehen oder ihn als Endgegner in eine möglichst ferne Ecke der mentalen und emotionalen Besinnung zu drängen. Warum glaubt der Mensch, aufrichtiges Unglück würde ihn seiner Stärke berauben?

Ich kann nicht über Menschen schreiben ohne von mir selbst zu sprechen. So wird aus dem Wir ein Ich. Ich will kein Paradies. Ich leide ab und an mit Genuss, ich will Reibung. Für mich ist das eine Chance, immense Mengen kreativer Energie freizusetzen und dieses mit Schmerz einhergehendes Entwicklungspotenzial auszuschöpfen. Hand aufs Herz: ich möchte in keiner Utopie leben. Zum Einen, da ich es nicht gewohnt bin. Zum Anderen, weil ich die Intensität des vollständigen, weiten Gefühlshorizonts ersehne. Ich begehre das komplette Spektrum. Mindestens so sehr wie Harmonie. Ein bisschen fürchte ich mich sogar davor, den Blick für das Leid, die Eigensinnigkeit und temporäre Selbstsucht der Welt zu verlieren. Es kostet viel, es zahlt sich aus. Es bietet die Option, inquisitiv zu reflektieren, infrage zu stellen, zu philosophieren und im schwermütigen Weltschmerz die eigene Empathie zu entdecken. Ich verlange nach der Freiheit des Kummers.

Mag sein, dass Stumpfsinn Raum für Zufriedenheit schafft und eine Vielzahl der Konflikte dem Zerdenken geschuldet sind. Kopfsache. Nichtsdestotrotz kann es eine pure Wohltat sein, sich zu beschweren. Sich der Dissonanz des Existierens erkenntlich zu zeigen. Jedweden Gedanken tausendfach in einer Spirale sorgenvoll durch die Gehirnwindungen zu jagen. Und letztendlich möglicherweise den Kreis zu brechen.

Als menschliches Wesen befinde ich mich in einem manifestierten Widerspruch, einer Zerrissenheit. Ich will Glück, ohne mich in einer weltfremden, selbstgefälligen Seifenblase zu verlieren. Ich will Unglück, ohne mich darin aufzuzehren, Unglück, das mir nichts anhaben kann, eher eine Art Melancholie. Ich will mir der kuriosen Bürde des Lebens bewusst sein, möchte nach einer Revolte streben und danach, den Dingen neue Formen zu verleihen. Ich will und dabei will ich nicht wollen.

Wir sind Chaos. Und Chaos benötigt Akzeptanz, um erträglich zu werden. An der ambivalenten Psyche der Menschheit werden wir nicht ohne Weiteres eine durchschlagende Veränderung vornehmen. Aber wir können uns Huxley’s Wildem anschließen und sagen: ich beanspruche das Recht, unglücklich zu sein.

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